2. Migräne, Pathophysiologie
***** Burstein R, Jakubowski M. Analgesic triptan action in an animal model of intracranial pain: a race against the development of central sensitization. Ann Neurol 2004;55:27-36
Zusammenfassung: Die Arbeitsgruppe von R. Burstein beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der systematischen Erfassung von Symptomen, die auf eine zentrale Sensibilisierung bei der Migräne hinweisen, und hat dafür eine Reihe klinischer und tierexperimenteller Belege erbracht, die auch zunehmend von anderen Arbeitsgruppen bestätigt werden (s. Besprechung der Arbeit von Bartsch & Goadsby, Brain 2003, in dieser Ausgabe). Vor kurzem hat diese Gruppe auch gefunden, dass die Therapie mit Triptanen (5-HT1B/DRezeptoragonisten) bei Migräneanfällen nur dann zur Schmerzfreiheit führt, wenn noch keine Allodynie (Berührungshyperalgesie) als Zeichen für eine zentrale Sensibilisierung aufgetreten ist (Burstein et al., Ann Neurol 2004; 55: 19- 26).
In der vorliegenden Arbeit wurde diese Hypothese durch elektrophysiologische Messungen an einem Tiermodell überprüft. Dabei wurden Neurone im spinalen Trigeminuskern der Ratte aufgesucht, die konvergenten afferenten Einstrom durch Aδ – und C-Fasern aus der freigelegten Dura mater und aus dem Gesichtsbereich erhalten. Dann wurde eine Mischung von Entzündungsmediatoren (“inflammatory soup”) auf das rezeptive Feld der Dura mater aufgetragen und dadurch eine zentrale Sensibilisierung erzielt, d.h. die spontane und die durch mechanische Stimulation der Dura und des Gesichts oder durch Hitze hervorgerufene Aktivität der trigeminalen Neurone nahm während der nächsten 1-2 Stunden auf ein Vielfaches der Ausgangsaktivität zu, und die rezeptiven Felder in der Dura und im Gesicht weiteten sich aus. Nach der Sensibilisierung wurde durch Infusion von 300 µg/kg Sumatriptan lediglich die mechanische Empfindlichkeit und die Größe der rezeptiven Felder in der Dura normalisiert, nicht aber die spontane Entladungsrate und die Antworten auf Stimulation des Gesichts. Wenn aber Sumatriptan frühzeitig (d.h. zeitgleich mit den Entzündungsmediatoren) infundiert wurde, wurde die Entwicklung der zentralen Sensibilisierung mit allen Symptomen vollständig verhindert.
Kommentar: Die Arbeit ist ein Musterbeispiel für eine konsequent am klinischen Bild orientierte und sorgfältig aufgebaute tierexperimentelle Studie, obwohl die Induktion der zentralen Sensibilisierung durch Entzündungsmediatoren sicherlich nicht den pathophysiologischen Vorgängen bei der Migräneentstehung entspricht.
Das wichtigste Ergebnis aus dieser Arbeit ist, dass die schon länger bekannten Wirkungsunterschiede der Triptane bei früher vs. später Gabe hier mit entsprechenden neurophysiologischen Unterschieden korrelieren. Tatsächlich werden ja beim Migräneanfall unabhängig vom Zeitpunkt der Triptangabe die pochenden Schmerzen und die Schmerzverstärkung durch Kopfbewegung oder Bücken gebessert, was im Tierexperiment durch die Normalisierung der mechanischen Übererregbarkeit und durch das Schrumpfen der rezeptiven Felder in der Dura mater repräsentiert wird. Auf der anderen Seite können bei der Migräne der Dauerschmerz und die Entwicklung von Allodynie, die im Tierexperiment wahrscheinlich der Spontanaktivität der trigeminalen Neurone und der gesteigerten Aktivierung durch extrakranielle Reize entspricht, nur durch frühzeitige Anwendung von Triptanen beseitigt bzw. verhindert werden.
Die vorliegende Arbeit lässt auch Raum für die Frage, wo die Triptane angreifen. Die Autoren meinen, dass Sumatriptan die Übertragung der sensorischen Signale aus der Dura auf die zentralen trigeminalen Neurone reduziert, wobei die Hemmung an der peripheren Endigung, im Ganglion oder an den zentralen Terminalen stattfinden könnte. Eine direkte Hemmung der zentralen Neurone halten sie für unwahrscheinlich, weil dann auch die Spontanaktivität und die Übererregbarkeit bei der Gesichtsstimulation gehemmt werden müßte. Dies ist sicherlich die einfachste Interpretation, schließt aber nicht aus, dass die Triptaneffekte durch Interneurone und/oder absteigende Neurone vermittelt werden. Jedenfalls muss eine Asymmetrie der afferenten Inputs vorhanden sein, die dafür sorgt, dass vorwiegend die intrakranielle nozizeptive Information durch Triptane unterdrückt wird. Ob diese Asymmetrie auf unterschiedlicher Rezeptorverteilung oder unterschiedlicher Ausstattung mit Neuropeptiden beruht (deren Freisetzung durch 5-HT1B/D-Rezeptoragonisten gehemmt wird), kann mit elektrophysiologischen Techniken alleine kaum beantwortet werden. (KM)
**** Bartsch T, Goadsby PJ. Increased responses in trigeminocervical nociceptive neurons to cervical input after stimulation of the dura mater. Brain 2003;126:1801-1813
Zusammenfassung: In dieser Arbeit wird mit einem tierexperimentellen Ansatz die Frage untersucht, ob die zentrale Sensibilisierung von trigeminocervicalen Neuronen für die Übertragung von Schmerzen und für die Hyperalgesie im Nackenbereich bei Migräne und Clusterkopfschmerz verantwortlich sein könnte. Dafür wurden im Segment C2 der Ratte Hinterhornneurone identifiziert, die afferenten Einstrom aus der Dura mater encephali und aus dem Halsbereich haben und die in den kontralateralen Thalamus projizieren. Die freigelegte parietale Dura wurde durch Senföl, eine stark noxische, CFasern erregende Substanz, gereizt und die Erregung der Hinterhornneurone registriert, außerdem die Antworten auf mechanische Stimulation der Dura, der kutanen rezeptiven Felder und der Nackenmuskulatur sowie die Antworten auf elektrische Stimulation des N. occipitalis major gemessen. Nach der Senföl-Behandlung war nicht nur in der Dura die mechanische Schwelle erniedrigt, sondern es fand sich auch eine Expansion von kutanen rezeptiven Feldern im Gesichtsbereich, und die Antworten auf mechanische Stimulation der paraspinalen Muskulatur waren verstärkt. Die Entladungsrate der Neurone war bei Stimulation des N. occipitalis ebenfalls erhöht, jedoch nur bei Aktivierung von C-Fasern aber nicht von A -Fasern.
Diese Veränderungen sind so zu deuten, dass durch die Erregung meningealer Afferenzen zentrale Sensibilisierungsvorgänge in den trigeminocervicalen Neuronen ausgelöst wurden, die zu verstärkter Aktivität der Neurone auch bei noxischer Stimulation im Nackenbereich führten.
Kommentar: Die Arbeit ergänzt eine frühere Studie der Autoren zur zentralen Sensibilisierung durch Stimulation des N. occipitalis major (Bartsch & Goadsby, Brain 2002, besprochen in den Kopfschmerz- News 4/2002). Die zentrale Sensibilisierung, die hier durch chemisch-noxische Stimulation der Dura mater ausgelöst und in eleganter Weise verifiziert wurde, würde sich im wachen Organismus als übertragener Schmerz und Hyperalgesie der Nackenregion zeigen, ein Phänomen, das auch bei primären Kopfschmerzen auftreten kann und neuerdings von Burstein und anderen systematisch beschrieben wurde (Burstein et al., Neurology 2000; Burstein, Pain 2001; s. Besprechung in den Kopfschmerz- News 3/2000 und 2/2001).
Die vorliegende tierexperimentelle Studie ist gut durchdacht und wurde nach klassischer elektrophysiologischer Methodik mit großer Sorgfalt durchgeführt. Für die Analyse zentraler Mechanismen bei der Schmerzentstehung gibt es auch heute keinen besseren Ansatz, obwohl durch diese Experimente allein natürlich nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann, dass bei primären Kopfschmerzen dieselben Mechanismen wie hier angenommen zur Schmerzübertragung und Hyperalgesie führen. Ebenfalls unklar bleibt die Frage, durch welchen Vorgang die Dura mater bei der Entstehung der primären Kopfschmerzattacken stimuliert wird, denn Senföl ist eine sehr potente, rein experimentelle Reizsubstanz.
Von den Einzelergebnissen der Studie ist besonders interessant, dass nur die CFaser- und nicht die A -Faser- Antworten nach der Sensibilisierung verstärkt waren, was auf einen unterschiedlichen Übertragungsmodus hindeuten könnte. Eine weitere Asymmetrie besteht darin, dass sich nach Senföl-Applikation eine zunehmende Übererregbarkeit vor allem bei Stimulation des N. occipitalis major und der Muskulatur, also der extrakraniellen Afferenzen, zeigte, während die Erregung durch die chemische Stimulation der Dura selbst nach kurzer Zeit wieder auf das Ausgangsniveau zurückging. Diese Reaktionsmuster zeigen deutlich, dass noch viel an neurophysiologischer Arbeit zu tun ist, bis wir die komplexen Zusammenhänge zwischen intra- und extrakraniellen nozizeptiven Vorgängen bei der Kopfschmerzentstehung verstehen. (KM)
***Avnon Y, Nitzan M, Sprecher E, Rogowski Z, Yarnitsky D. Different patterns of parasympathetic activation in uni- and bilateral migraineurs. Brain. 2003;126:1660-70.
Zusammenfassung: In dieser Arbeit untersuchen die Autoren bei 39 Migränepatientinnen, inwieweit eine Mitbeteiligung des parasympathischen trigeminovaskulären Systems bei Migräne gesichert werden kann. Sie gingen von der Beobachtung aus, dass Migränesymptome wie Gesichtsrötung, Tränenfluss und Rhinorhoe in der Attacke auftreten können. Darüber hinaus wurde bereits früher vasoaktives intestinales Peptid bei Migränepatienten während der Attacke nachgewiesen, das als parasympathischer Transmitter gilt. Außerdem stützten sie ihre Hypothese, dass Veränderungen dieses Systems nachgewiesen werden können, auf die Berichte, nach denen intranasale Installation von Lidocain parasympathische Aktivierung zum Gehirn unterbinden kann. Methodisch wurde die Photoplethysmographie bilateral im Bereich der Stirn angewandt. Die Durchblutungsanstiege im Stirnbereich wurden durch einen Tropfen von entweder Kochsalzlösung oder Seifenlauge auf die Konjunktiven ausgelöst.
Wider Erwarten fanden die Autoren keine Unterschiede in der Vasodilatation zwischen Migränepatientinnen und Kontrollen bei einseitiger Migräne. Allerdings fand sich bei beidseitiger Migräne die größte vasodilatatorische Antwort. Die Autoren schließen in einer ausführlichen Diskussion darauf, dass Inhibition zwischen beiden Nuclei locus coerulii gesucht werden muß. Ihre Hypothese geht dahin, dass bei einseitiger Migräne immer noch eine ausreichende gegenseitige Hemmung vorliegt, die im Fall beidseitiger Schmerzen zusammenbricht.
Kommentar: Die dargestellten Daten scheinen plausibel, methodische Schwächen sind nicht erkennbar. Auch die Kontrollen sind überzeugend durchgeführt, so dass an der Reliabilität der Daten kaum Zweifel bestehen. Auch wurden alle Migränepatientinnen im kopfschmerzfreien Intervall, mindestens eine Woche nach der letzten Attacke untersucht. Allerdings bleibt unklar, inwieweit durch Nachbefragung der Patientinnen auch sichergestellt wurde, dass die nächste Attacke nicht im unmittelbaren Anschluß an die Messung aufgetreten ist. Auch wenn die Schlussfolgerung einer unterschiedlichen gegenseitigen Hemmung der Nuclei coerulii weiterer experimenteller Unterst ützung bedarf, handelt es sich nichtsdestotrotz um die Weiterentwicklung des Konzeptes der Entstehung von Migräneattacken im Hirnstammbereich. Insbesondere handelt es sich um eine letztlich auch pharmakologisch testbare Hypothese. Denkbar wäre, dass in der Prophylaxe von Migräneattacken unterschiedliche Substanzen sich auch unterschiedlich auf ein- oder beidseitige Migräneattacken auswirken könnten. Insgesamt also ein durchaus stimulierendes Konzept für weitere Untersuchungen. (WP)
****Strecker T, Messlinger K. Neuropeptidfreisetzung in den Hirnhäuten durch Stickstoffmonoxid. Schmerz 2003;17:179-184.
Zusammenfassung: Die zugrundeliegende Hypothese dieser Arbeit ist, dass Blutflussänderungen bzw. eine meningeale Vasodilatation eine Rolle in der Pathogenese von Kopfschmerzen spielt. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Stickstoffmonoxid (NO), CGRP und Migräne wird überprüft, ob für die NO-induzierte Vasodilatation der A. meningea media in der Dura mater der Ratte eine Abhängigkeit von CGRP besteht. Verschiedene lokal applizierte NO Donatoren (NONOate, SNAP) führen zu einem dosisabhängigen Anstieg des mit Hilfe eines Laser Dopplers gemessenen duralen Blutflusses, welcher durch die Zugabe des CGRP Rezeptor Antagonisten 8- 35 vermindert wird. Die Gabe von ASS und Metamizol war ohne sicheren Effekt auf den NO induzierten Blutflussanstieg. Zudem führte die Administration von NONOate in einer Hemikraniektomie Präparation des Schädels zur erhöhten Ausschüttung von CGRP, jedoch nicht PGE2. Die Autoren folgern: 1) NO stimuliert die Ausschüttung von CGRP, 2) einen permissiven Effekt zwischen NO und CGRP 3) NSAIDS reduzieren den Migräne-Kopfschmerz über einen blutflussunabhängigen Effekt.
Kommentar: Diese Arbeit hat einen klar strukturierten Aufbau und überprüft in einem etablierten tierexperimentellen Modell den Zusammenhang zwischen NO und CGRP in der Blutflussregulation der Dura mater. Die Ergebnisse reproduzieren dabei sehr schön die Daten von Wei et al., 1992 an pialen Blutgefässen der Katze. Darüber hinaus führt die Applikation von NONOate erwartungsgemäß zur Ausschüttung von CGRP in einer Schädelpräparation. Hier wäre es interessant zu sehen, ob ein in humanen Studien eingesetzter NO-Donator einen ähnlichen Effekt hätte. Darüber hinaus ist nicht klar, warum die CGRP Bestimmung in einer biologisch nicht sicher relevanten Präparation (in vitro; Hemikraniektomie) vorgenommen wurde und nicht etwa in vivo aus dem Jugularvenenblut der Ratte nach NO-Donator Infusion, welches die humanen Bedingungen besser wiedergeben würde. (UR)
**** Katsavara Z, Egelhof T, Kaube H, Diener HC, Limmroth V. Symptomatic migraine and sensitization of trigeminal nociception associated with contralateral pontine cavernoma. Pain 2003;105:381-384.
Zusammenfassung: Anhand bildgebender Untersuchungen (PET) konnte gezeigt werden, dass anti-nozizeptive Hirnstammstrukturen (periaquadukateles Grau, Locus coeruleus, Raphekerne) eine Schlüsselrolle bei der Generierung von Migräneattacken spielen. Aus tierexperimentellen Untersuchungen kennt man deszendierende Bahnen dieser Kerne, die das trigeminale nozizeptive System modulieren. Mit Hilfe der neuen Untersuchungstechnik des nozizeptiven spezifischen Blinkreflexes, konnte die obengenannte Arbeitsgruppe bereits in einer früheren Publikation darstellen, dass es bei Migränepatienten während der Migräneattacke zu einer temporären Sensibilisierung der ipsilateralen trigeminalen Nozizeption kommt (Latenz der R2 Komponente auf der Kopfschmerzseite im Seitenvergleich signifikant verkürzt) (Neurology 2002;58:1234-1238). Auf diese Beobachtungen stützt sich die Hypothese, dass eine Dysfunktion von anti-nozizeptiven Hirnstammkernen zu einer Disinhibition (Enthemmung) des trigeminalen nozizeptiven Systems und damit zu Migräneattacken führt.
Im vorliegenden Fallbericht wird eine 38-jährige Patientin mit linksseitigem pontinem Cavernom beschrieben, welche an streng rechtsseitiger Migräne leidet. Die Schmerzschwelle war sowohl interiktal als auch während der Migräneattacke rechtsseitig herabgesetzt. Im nozizeptiven spezifischen Blinkreflexes fand sich eine persistierende Transmissionsst örung der ipsilateralen trigeminalen Nozizeption. Diese war während einer Migräneattacke noch stärker ausgeprägt.
Kommentar: Dieser interessante Fallbericht untermauert am klinischen Beispiel die Schlüsselrolle des Hirnstamms bei der Generierung von Migräneattacken. Er beschreibt die Funktionsstörung des Hirnstamms bei einer Patientin mit pontinem Cavernom und die dadurch bedingte Sensibilisierung der trigeminalen Nozizeption mit konsekutiven Migräneattacken. (GJS)