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Kopfschmerz-News 6/1998 Migräne Pathophysiologie – DMKG

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2. Migräne Pathophysiologie

***** Ophoff RA, Terwindt GM, Vergouwe MN, Frants RR, Ferrari MD (1996). Involvement of a Ca2+ channel gene in familial hemiplegic migraine and migraine with and without aura. Cephalalgia 16: 463-467

Eines der wichtigsten Ergebnisse in der Migräneforschung der letzen Jahre war die Entdeckung des Gens, das bei ca. 50% der Betroffenen mit Familiärer Hemiplegischer Migräne (FHM) Mutationen aufweist. Einen großen Anteil an der Entdeckung des Genlocus hatte die holländische Arbeitsgruppe um Ferrari aus Leiden. Ihr ist schließlich auch die Sequenzierung des Gens und die Aufdeckung der relevanten Mutationen bei der FHM gelungen.
In der hier vorgelegten Arbeit, die mit dem Wolff Award 1997 der American Association for the Study of Headache ausgezeichnet worden ist, faßt die Arbeitsgruppe ihre bisherigen Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick auf die nächsten Forschungsaufgaben zur Aufdeckung der genetischen Grundlagen der Migräne. Sie stellt somit eine gute Übersichtsarbeit dar, die auch zur schnellen Literatursuche geeignet ist. In knapper Form und ohne die methodischen Einzelheiten, die nur von Genetikern nachvollzogen werden können, werden die Schritte von den ersten Linkageanalysen mit der Lokalisation des Gendefekts auf Chromosom 19p13 bis hin zur Sequenzierung des Gens, das für eine Untereinheit eines spannungsabhängigen Calcium-Kanals kodiert, und der Aufdeckung von vier verschiedenen missense-Mutationen dargestellt.
Bemerkenswert ist, daß auch die Episodische Ataxie Typ II mit Mutationen in demselben Gen assoziiert ist. Es handelt sich jedoch hierbei um Mutationen, die zum Abbruch der Sequenz führen. Noch ungeklärt ist, welche Bedeutung der Gendefekt im Rahmen der Pathophysiologie der Migräne hat. Auch andere paroxysmale neurologische Erkrankungen sind mit Elektrolytkanal-Veränderungen assoziiert, so daß dem Gendefekt evt. mehr Bedeutung für das attackenartige Auftreten als z.B. für die Entstehung des Schmerzes zukommt. Auch noch ungeklärt ist, ob dieser Gendefekt eine Bedeutung für andere Formen der Migräne hat. Zwar präsentieren die Autoren Daten über eine (schwach signifikante) Beteiligung des Genlocus in 28 Familien mit anderen Migräneformen, bis heute ist jedoch keiner Arbeitsgruppe ein Linkage zu dem Locus auf Chromosom 19p13 für andere Migräneformen gelungen. Außerdem weisen die Autoren darauf hin, daß nicht alle Fälle der FHM durch diesen Locus erklärt werden können. Inzwischen ist ein weiterer Locus auf Chromosom 1q31 für die FHM nachgewiesen, der aber auch nicht für alle anderen Fälle der FHM verantwortlich sein kann und noch nicht sequenziert ist. (SE)

***** Andersson JLR, Muhr C, Lilja A, Valind S, Lundberg PO, Langström B. (1997) Regional cerebral blood flow and oxygen metabolism during migraine with and without aura. Cephalalgia 17: 570-579.

Die Frage, ob es sich bei der Migräne um einen “vaskulären” Kopfschmerz handelt, d.h. ob die Kopfschmerzen lediglich Folge einer “Durchblutungsstörung” sind, wurde über viele Jahrzehnte kontrovers diskutiert. In dieser hervorragenden Studie aus Uppsala (Schweden) wird eindeutig gezeigt, daß Migränekopfschmerz nicht die Folge einer cerebralen Minderperfusion ist. Somit waren die Autoren erstmalig in der Lage, diese Streitfrage zweifelsfrei zu beantworten. Andersson et al. untersuchten, ob eine Abnahme der regionalen Hirndurchblutung (von den Autoren als Ischämie bezeichnet) Ursache oder Folge des Migränekopfschmerzes ist. Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie wurde sowohl der regionale cerebrale Blutfluß (rCBF) als auch die regionale Sauerstoff-Extraktion (rOER = regional oxygen extraction ratio) und der Sauerstoff-Metabolismus (rCMRO2 = regional cerebral metabolic ratio of oxygen) bestimmt. Sowohl die rOER als auch die rCMRO2 sind ein Maß für den Sauerstoffverbrauch im Gewebe. Hirngewebe ist wie kaum ein anderes Gewebe des menschlichen Körpers auf die konstante Zufuhr von Sauerstoff und Glukose (als “primäre Energielieferanten”) angewiesen. Tritt eine cerebrale Minderperfusion auf (wie z.B. bei einem Schlaganfall mit embolischem Gefäßverschluß), so steigt die Sauerstoffextraktion im nachgeschalteten Hirngewebe massiv an, so daß trotz des verminderten Blutflusses der Struktur- und Funktionsstoffwechsel der Zellen aufrechterhalten werden kann. Wenn im Gegensatz dazu die Neurone weniger aktiv sind, so nimmt nicht nur der regionale cerebrale Blutfluß, sondern auch der Sauerstoffverbrauch im Gewebe deutlich ab. Sollte der Migränekopfschmerz also Folge einer Minderperfusion sein, so müßte ein reaktiv erhöhter Sauerstoffverbrauch nachweisbar sein (Ischämie-Reaktion). Ist hingegen primär die neuronale Aktivität reduziert – wie dies im Rahmen der sog. spreading depression der Fall ist – so nimmt nicht nur der regionale cerebrale Blutfluß sondern auch der Sauerstoffverbrauch ab.
Die Autoren untersuchten 11 Patienten mit Migräne ohne oder mit Aura im kopfschmerzfreien Intervall (n=11), während einer Aura (n=6), während einer Migräneattacke (n=10) und nach Gabe von Sumatriptan (n=4). Im primär visuellen Kortex zeigte sich eine signifikante Minderung des regionalen cerebralen Blutflusses und des Sauerstoffverbrauches. Somit konnte eine Minderperfusion (“Ischämie”) als Ursache der Kopfschmerzattacken ausgeschlossen werden. (MJ)

**** Zurak N (1997). Role of the suprachiasmatic nucleus in the pathogenesis of migraine attacks. Cephalalgia 17:723-728

In der Pathophysiologie der Migräne konzentriert sich das Interesse der Forscher zum einen auf die Hirnrinde und das Phänomen der spreading depression und zum anderen auf bestimmte Hirnstammkerne. Fehlfunktionen in diesen Bereich erklären allerdings viele andere biologische Phänomene der Migräne nicht, wie beispielsweise das gehäufte Auftreten am Morgen und insbesondere nicht die Prodromalphase.
Der Autor gibt hier eine exzellente Übersicht über die Anatomie, Physiologie und Funktion des Nucleus suprachiasmaticus, einem Bestandteil des Hypothalamus. Dieser Kern, der afferente Informationen aus der Sehrinde erhält und insbesondere zu Hirnstammkernen projiziert, ist das anatomische und biologische Substrat der inneren Uhr. Im Tierexperiment führt eine Zerstörung dieses Kerngebietes zur Aufhebung zirkadianer Rhythmen. Die Hauptneurotransmitter in diesem Kern sind Vasopressin, Neuropeptid Y und vasoaktives intestinales Polypeptid. Andere Fasern aus dem Nucleus suprachiasmaticus projizieren zur Hypophyse und regulieren auf diese Art die zirkadiane Rhythmik der Hormonausschüttung.
Nach Ansicht des Autors könnte eine Funktionsstörung in diesem Kerngebiet relativ gut erklären, warum Migräneattacken durch Hormonschwankungen, durch zu langes Schlafen und durch zu kurzes Schlafen provoziert werden könnten. Durch die efferenten Verbindungen zurück zur Hirnrinde wäre möglicherweise zu erklären, warum bei einer Dysfunktion des Nucleus suprachiasmaticus Lichtreize nicht mehr adäquat verarbeitet werden und es über eine Übererregbarkeit der corticalen Rinde zur spreading depression kommt. (HCD)

**** Marcus DA, Scharff L, Turk D, Gourley LM (1997). A douple-blind provocative study of chocolate as a trigger of headache. Cephalalgia 17:855-862

Die Lehrbücher der Neurologie und über Kopfschmerzen sind voll von Berichten über die potentielle Auslösung von Migräneattacken durch Nahrungsmittel insbesondere Schokolade, Käse, Erdnüsse, bestimmte Südfrüchte und bestimmte Fleischarten. Unterstellt wird, daß die in diesen Lebensmitteln enthaltenen Substanzen Tyramin, Histamin und Beta-Phenylethylamin dafür verantwortlich sind. Es gibt bisher zwei kleine prospektive Studien zur möglichen Auslösung von Migräneattacken durch Schokolade, die konträre Ergebnisse erbracht haben.
Die amerikanischen Autoren führten deshalb nochmals eine außerordentlich gut kontrollierte prospektive Studie durch, für die sie 63 Frauen mit Migräne rekrutieren konnten. Die Patienten wurden zunächst gebeten, über 14 Tage eine spezielle Diät einzuhalten, die arm an Tyramin, Histamin, Nitraten, Coffein, Aspartam und Beta-Phenylethylamin war. Bereits während dieser Zeit führten die Patientinnen ein Kopfschmerz-Tagebuch. Dann wurden sie in den nächsten 10 Tagen gebeten, jeweils viermal Schokolade oder Johannisbrot zu essen. Letzteres enthält kein Phenylethylamin und kein Theobromin. Geschmacklich waren die beiden Produkte nicht zu unterscheiden, was zuvor durch eine Geschmacksüberprüfungsstudie gesichert worden war.
Als Zielkriterium wurde überprüft, ob es möglich war, durch das Essen von Schokolade oder der Kontroll-Substanz innerhalb der nächsten 12 Stunden Kopfschmerzen oder eine Migräne auszulösen. Zwischen Verum und Placebo ergab sich kein Unterschied. Dies galt insbesondere auch für Frauen, die angaben, daß bei ihnen Schokolade häufig oder regelmäßig zu Migräneattacken führe.
Diese Studie belegt in einem durchdachten Design und einer Studiendurchführung von hohem Standard, daß Schokolade entgegen landläufiger Meinung nicht zur Auslösung von Migräneattacken führt. Man muß daher also unterstellen, daß der Heißhunger auf Süßigkeiten ein Symptom der Prodromalphase der Migräne ist und sich so der von den Patienten vermutete Zusammenhang zwischen Essen von Schokolade und Auslösen der Migräneattacke ergibt. (HCD)


DMKG