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04. Migräne, Pathophysiologie

***** Sanchez del Rio M, Bakker D, Wu O, Agosti R, Mitsikostas DD, Ostergaard L, Wells WA, Rosen BR, Sorensen G, Moskowitz MA, Cutrer FM. Perfusion weighted imaging during migraine: spontaneous visual aura and headache. Cephalalgia 1999;19:701-707.

Zusammenfassung: Die Arbeitsgruppe um Mike Moskowitz hatte die frühen Ergebnisse zur Durchblutungsmessung bei der Migräneaura mit Hilfe der Kernspintomographie bereits in Annals of Neurology publiziert. Hier wird nun eine größere Studie vorgestellt. Bei insgesamt 19 Migränepatienten wurden Kernspintomographien vor, während und nach spontanen Migräneattacken durchgeführt. Bei sechs Patienten mit einer Migräne mit Aura konnten siebenmal spontan auftretende visuelle Auren untersucht werden. Bei drei Patienten mit einer Migräne mit Aura konnte eine Messung während der Kopfschmerzphase durchgeführt werden. Bei 13 Patienten mit einer Migräne ohne Aura wurde eine Untersuchung während der Kopfschmerzphase durchgeführt. Perfusionsmessungen wurden nach intravenöser Bolusgabe von Gadollinium durchgeführt. Es wurden auch die regionalen cerebralen Blutvolumina und die mittlere Transitzeit berechnet. Für die Analyse wurden regions of interest definiert, die innerhalb der Migräneattacke und in beschwerdefreien Intervallen verglichen wurden. Zu diesem Zweck wurden die MR-Bilder normalisiert und eine statistische Auswertung vorgenommen. Die spontanen visuellen Auren wurden im Mittel innerhalb von 31 Min. nach Beginn der Symptome untersucht. Bei allen untersuchten Patienten fand sich eine Perfusionsminderung im visuellen Cortex kontralateral zur Hemianopsie. Der regionale cerebrale Blutfluß nahm im Mittel um 27% ab und das regionale cerebrale Blutvolumen um 15%. Die mittlere Transitzeit nahm im Mittel um 32% zu. In anderen Hirnregionen konnten keine signifikanten Veränderungen des cerebralen Blutflusses beobachtet werden. Bei Migräne ohne Aura waren der cerebrale Blutfluss und das cerebrale Blutvolumen unverändert. Die Autoren schließen daraus dass es während der Migräneaura zu einer signifikanten Abnahme des Blutflusses im Occipitalpol kommt.

Kommentar: Die hier vorliegende Studie ist deshalb sehr wichtig, weil erstmals auch Messergebnisse von Patienten berichtet werden, die eine Migräne ohne Aura haben. Aus technischen Gründen war es offenbar nur möglich, Migränepatienten zu untersuchen, die ein halbseitiges Skotom während ihrer Migräneaura haben. Es wäre natürlich auch sehr interessant zu wissen, ob es Änderungen des regionalen cerebralen Blutflusses gibt, wenn die Aurasymptome andere kortikale Areale wie beispielsweise den motorischen oder sensorischen Cortex umfassen. (HCD)

**** Gervil M, Ulrich V, Kaprio J, Olesen J, Russel MB. The relative role of genetic and environmental factors in migraine without aura. Neurology 1999;53:995-999.

Zusammenfassung: Im Zeitalter der modernen molekularbiologischen Forschungsfortschritte wirken die klassischen Zwillingsstudien fast schon ein wenig antiquiert, haben sie doch in den 50er und 60er Jahren ihre Blütezeit bei der Ermittlung genetischer Faktoren von chronischen Erkrankungen gehabt. Dennoch erleben sie in letzter Zeit eine gewisse Renaissance, da inzwischen große Datenbanken mit mehreren tausend Zwillingspaaren angelegt worden sind und Zwillingsstudien nach wie vor die beste Methode sind, um bei polygenetischen bzw. multifaktoriellen Erbgängen zwischen genetischen und umweltbedingten Einflußfaktoren zu differenzieren. Unter dieser Fragestellung hat auch die Arbeitsgruppe um Jes Olesen und Michael Russell in Kopenhagen eine neue Zwillingsstudie vorgelegt, die auf dem nationalen dänischen Zwillingsregister basiert. Es liegen bereits mehrere Zwillingsstudien, gerade aus den skandinavischen Ländern, vor, die weitgehend konsistent einen wichtigen genetischen Faktor in der Ätiologie der Migräne belegen. Stärkstes Indiz dafür ist, dass die Konkordanzrate für Migräne bei monozygoten Zwillingen (MZ) ungefähr doppelt so hoch ist wie bei dizygoten Zwillingen (DZ) (in einer Metaanalyse 0,31 zu 0,16).

In dieser Studie geht die Arbeitsgruppe von ihrer Hypothese aus, dass es sich bei Migräne ohne Aura und Migräne mit Aura um zwei distinkte Erkrankungen handelt, die eine unterschiedliche Ätiologie haben. Diese Hypothese kann zumindest als umstritten bezeichnet werden, ist aber als Ansatz für genetische Studien sicherlich interessant. Die Konkordanzrate für Migräne bei MZ beträgt hier 0,43 und bei DZ 0,31. Damit wird nicht das Verhältnis von 2:1 erreicht, das bisherige Studien, die alle Migräneformen gemeinsam analysiert haben, gezeigt haben. Interessanterweise ist der Unterschied zwischen MZ und DZ nur bei Frauen signifikant. In verschiedenen Modellanalysen kann dann gezeigt werden, dass additive genetische Effekte mit (gruppenstatistisch zu interpretierenden) 61% zur Ätiologie der Migräne ohne Aura beitragen, während dies die für jedes Individuum spezifischen Umweltfaktoren nur zu 39% tun. Die Autoren schließen daraus, dass mehrere additive genetische Effekte (z.B. ein polygenetischer Erbgang) die Ursache der Migräne darstellen und Umweltfaktoren als Ursache vernachlässigt werden können. Dies wird auch dadurch gestützt, dass sich keine Unterschiede in den Konkordanzraten zwischen den Zwillingspaaren, die getrennt aufgewachsen sind, und denjenigen, die gemeinsam aufgewachsen sind, zeigen.

Die Interpretation der Ergebnisse legt nahe, dass es sich bei Migräne um eine Erkrankung mit genetischer Veranlagung handelt. Umweltfaktoren wirken als Trigger und sind direkt mit verschiedenen genetisch bedingten Veranlagungen assoziiert. Kommentar: Die beiden Hauptkritikpunkte an dieser Arbeit sind zum einen die Ausgangshypothese, dass Migräne ohne Aura und Migräne mit Aura distinkte Erkrankungen sind (so apodiktisch wie die Autoren dies behaupten, wird diese Hypothese von Kopfschmerzexperten keineswegs geteilt) und zum anderen die im Vergleich zu anderen Zwillingsstudien relativ hohe Konkordanzrate, die in erster Linie auf die ohnehin hohe Migräneprävalenz in der Stichprobe zurückzuführen ist. Für diese hohe Prävalenz bieten die Autoren lediglich die wenig plausible Erklärung an, dass ein direktes Interview und kein schriftlicher Fragebogen verwendet worden sind. (SE)


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