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04. Migräne, Pathophysiologie

*** Jen J, Yue Q, Nelson SF, Yu H, Litt M, Nutt J, Baloh RW (1999) A novel nonsense mutation in CACNA1A causes episodic ataxia and hemiplegia. Neurology 53: 34-37.

In derselben Ausgabe von Neurology (s. Battistini et al.) findet sich eine weitere Arbeit zur Gruppe der CACNA1A assoziierten Erkrankungen, die die phänotypische Vielfalt molekularer Defekte in diesem Gen weiter bereichert. Beschrieben wird eine große amerikanische Familie, bei der betroffene Personen seit frühester Kindheit vor allem nach körperlicher Anstrengung und emotionaler Belastung unter Attacken von Schwindel, Rumpf- und Extremitätenataxie, sowie Dysarthrie leiden. Da zusätzlich nahezu alle Betroffenen positiv auf die Gabe von Azetazolamid ansprachen, wurde die klinische Verdachtsdiagnose einer Episodischen Ataxie Typ 2 (EA-2) gestellt. Die genetische Kopplung zum EA-2/FHM-Locus auf Chromosom 19p13 war bereits vorab publiziert, die jetzt veröffentlichte Mutationssuche zeigte bei 17 Patienten (davon drei asymptomatisch) den Nachweis einer nonsense-Mutation in Exon 29 des Gens. Die Mutation führt durch ein vorzeitiges Stop-Codon zu einem trunkierten Protein und damit zu einem wahrscheinlich nicht funktionsfähigen Calciumkanal.

Die Besonderheit in dieser EA-2-Familie liegt darin, dass zwei Betroffene konsistent über Hemiplegien im Rahmen ihrer ataktischen Episoden berichten, also Phänomene, die bislang der Familiären Hemiplegischen Migräne zugeordnet wurden. Fast alle Betroffenen hatten darüberhinaus während der Attacke ein diffuses Schwächegefühl und Kopfschmerzen. Interessant ist diese Beobachtung, da die FHM genetisch durch missense-Mutationen in CACNA1A ausgelöst wird, die EA-2 jedoch – wie auch in dieser Familie – durch nonsense-Mutationen. Bisherige Überlegungen gingen davon aus, dass diese unterschiedlichen Mutationstypen zu unterschiedlichen funktionellen Alterationen des Kanalproteins und damit zu mehr oder weniger unterscheidbaren Phänotypen führen. Die Beobachtungen von Baloh et al. weisen also, in Zusammenschau mit weiteren Arbeiten in jüngster Zeit darauf hin, dass das mutierte Calciumkanalgen nicht die direkte Ursache für die klinischen Auffälligkeiten bei FHM, EA-2 und wahrscheinlich sogar SCA6 ist, sondern dass das Genprodukt pathophysiologisch in komplexe Reaktionsketten involviert ist, die deshalb zu überlappenden Phänotypen führen. Mögliche Mechanismen dieser genetischen Veränderungen werden in der Arbeit diskutiert. (MD)

** Battistini S, Stenirri S, Piatti M, Gelfi C, Righetti PG, Rocchi R, Giannini F, Battistini N, Guazzi GC, Ferrari M, Carrera P (1999) A new CACNA1A gene mutation in acetazolamide-responsive familial hemiplegic migraine and ataxia. Neurology 53: 38-43.

Das auf Chromosom 19p13 lokalisierte Gen CACNA1A kodiert für einen vorwiegend im Kleinhirn und Hirnstamm exprimierten P/Q-Typ Calciumkanal. Mutationen in diesem Gen führen phänotypisch zu Krankheitsbildern, die neben paroxysmalen Phänomenen wie Migräne und Schwindel auch chronisch-progrediente Störungen wie eine zerebelläre Ataxie aufweisen. Dabei handelt es sich um die Familiäre Hemiplegische Migräne (FHM), die Episodische Ataxie Typ 2 (EA-2) und die Spinocerebelläre Ataxie Typ 6 (SCA 6).

In letzter Zeit wurde zunehmend deutlich, dass eine eindeutige Genotyp-Phänotyp-Korrelation für diese Calciumkanalerkrankungen nicht möglich ist. Die vorliegende Arbeit bereichert das Spektrum an klinischen und genetischen Besonderheiten der CACNA1A-assoziierten Erkrankungen. Beschrieben wird eine italienische Familie, in der 2 Schwestern phänotypisch die IHS-Kriterien einer familiären hemiplegischen Migräne aufweisen. Die schwerer betroffene Schwester erlebte während der Migräneattacken auch delirante Zustände, Fieber und Vigilanzminderung bis zum Koma. Zusätzlich entwickelten beide im 57., bzw. 60 Lebensjahr eine langsam progrediente cerebelläre Ataxie, als deren Korrelat sich kernspintomographisch eine mäßige Kleinhirnatrophie fand. Die Genotypisierung der Familie mittels polymorpher Mikrosatellitenmarker für den FHM-Locus auf Chromosom 19 zeigte bei beiden Betroffenen einen gemeinsamen Haplotyp. Im Mutationsscreening mittels DG-DGGE (Doppelgradienten- Denaturierungsgradienten Gel Elektrophorese) fand sich eine missense-Mutation in Exon 13 des CACNA1A-Gens, die auf Proteinebene zum Austausch einer Aminosäure (Arg583Glu) führt. Diese konnte auch bei einem asymptomatischen Familienangehörigen detektiert werden. Angesichts des relativ späten Krankheitsbeginns bei dessen Mutter (40 Jahre) erscheint jedoch eine bislang noch nicht stattgehabte Manifestation bei diesem Genträger genauso wahrscheinlich wie inkomplette Penetranz.

Zwei weitere Familienangehörige mit Migräne ohne Aura tragen die Mutation nicht, so daß in dieser Familie ein pathophysiologischer Zusammenhang zwischen dem funktionell alterierten Calciumkanal und der Kopfschmerzgenese unwahrscheinlich ist. Darüberhinaus ist die Familie in zweierlei Hinsicht erwähnenswert: Zum einen nahm bei beiden betroffenen Schwestern die Attackenhäufigkeit und -schwere im Alter zu, was sowohl für die FHM, als auch für die Migräne ohne Aura eher untypisch ist. Zum anderen waren beide Betroffene unter 2x250mg Azetazolamid über 17 Monate frei von Migräneattacken, wohingegen die Ataxie durch das Medikament unbeeinflußt blieb. Ob die von den Autoren geforderten kontrollierten Studien zu Azetazolamid als Prophylaxe bei FHM und auch nichthemiplegischer Migräne sinnvoll sind, bleibt angesichts des vagen pathophysiologischen Zusammenhangs zwischen den beiden Syndromen fraglich. (MD)

*** Wang W, Ye-Han Wang, Xian-Ming Fu, Zi-Min Sun, Schoenen J (1999) Auditory evoked potentials and multiple personalty measures in migraine and post-traumatic headaches. Pain 79: 235-242.

Frühere Untersuchungen mit evozierten Potentialen an Migränepatienten haben im attackenfreien Intervall eine Störung der Reizverarbeitung mit mangelnder Habituation und gesteigerter Intensitätsabhängigkeit der EVOP-Amplituden (“intensity dependence”) aufzeigen können. Analog zu tierexperimentellen Studien soll dies auf eine erniedrigte serotoninerge Kontrolle aufsteigender sensorischer Bahnen zurückzuführen sein. Erniedrigte zentrale Serotoninspiegel werden gleichzeitig mit erhöhter Ängstlichkeit und reduzierter Risikobereitschaft (“sensation seeking”) assoziiert und fraglich korreliert.

Dr. Wang und Kollegen haben an einem Kollektiv von 26 Migränepatienten, Gesunden und Kontrollpersonen mit chronischem posttraumatischen Kopfschmerz mehrdimensionale Persönlichkeitstests durchgeführt und die Funktion der “intensity dependence” kortikaler AEPs bestimmt. Ihre Ergebnisse bestätigen, daß bei Migränepatienten im Intervall eine Störung der Reizverarbeitung vorliegt und sie erniedrigte Scores für “sensation seeking” und erhöhte Werte für Ängstlichkeit aufweisen – im Unterschied zu Gesunden und Patienten mit chronischem posttraumatischen Kopfschmerz. Die Steilheit der “intensity dependence” war jedoch nicht “sensation seeking” korreliert. Obwohl die Autoren methodische Unterschiede gegenüber anderen Arbeiten anführen, um die fehlende Korrelation zu erklären, erscheint es ebenso wichtig hervorzuheben, daß erstens die elektrophysiologischen Meßergebnisse keine Surrogate für Persönlichkeitsmerkmale sind und zweitens Migräne und Ängstlichkeit keine gemeinsame genetische Determinierung haben müssen. Außerdem handelt es sich bei dem Habituatuationsdefizit bei Migränepatienten nicht um einen “trait”- sondern um einen “state”- Marker, da es während der Attacke nicht nachweisbar ist. (HK)

**** Schoenen J (1998) Cortical electrophysiology in migraine and possible pathogenetic implications. Clin Neurosci 5: 10-17.

In dieser ausgezeichneten Übersichtsarbeit fügt Dr. Schoenen die bisher bekannten Mosaiksteine über neurophysiologische Untersuchungsergebnisse bei Migränepatienten zu einen einfach verständlichen und überzeugenden Bild zusammen. Wichtige Elemente sind die kürzlich entdeckten genetischen Befunde, daß zumindest bei einem Teil der Migränepatienten eine Kanalerkrankung vorliegt. Diese kann Ursache des attackenweisen Charakters der Migräne sein. Gleichzeitig läßt sich im attackenfreien Intervall MR-spektroskopisch eine kortikale mitochondriale Phosphorylierungsstörung aufzeigen, die bei längerer sensorischer Aktivierung durch metabolische Shifts zu einem Zusammenbruch der Energiehomöostase und damit zu “cortical spreading depression” (CSD) führen kann.

Nach neuesten MR-Studien ist das Auftreten von CSD als Ursache der Aurasymptome sehr wahrscheinlich. Weiterhin legen viele Untersuchungen dar, daß bei Migränepatienten eine Reizverarbeitungsstörung mit gestörter Habituation außerhalb der Attacke vorliegt, die zu einer sensorischen kortikalen Überlastung führen kann. Es ist möglich, daß die Habituationsstörung ebenfalls durch eine Dysfunktion von Calciumkanälen und verminderte Freisetzung von Serotonin im Hirnstamm entsteht. Folgende Fragen werden in diesem Review nicht weiter diskutiert: 1. Der Erbgang der Migräne spricht nicht für das Vorliegen einer klassischen Mitochondriopathie. 2. Da auch bei Clusterkopfschmerzpatienten kortikale Phoshorylierungsstörungen beobachtet wurden, sind diese zumindest nicht migränespezifisch. 3. Wenn CSD als Korrelat der Aura durch Elektrolytverschiebungen und exzitatorische Transmitter zu einer Aktivierung des trigeminalen Systems führt, wie entsteht der Kopfschmerz bei Migräneattacken ohne Aura? (HK)

*** Kaube H, Knight YE, Storer RJ, Hoskin KL, May A, Goadsby PJ (1999) Vasodilator agents and supracollicular transection fail to inhibit cortical spreading depression in the cat. Cephalalgia 19: 592-597.

In einer tierexperimentellen Studie an der Katze untersuchen Kaube und Coautoren 2 Fragen:
1. Haben lokal auf das Hirn applizierte Vasodilatatoren einen Einfluss auf die Auslösbarkeit und Propagation einer experimentell ausgelösten Spreading Depression, sowie
2. Welchen Einfluss hat die komplette Transsektion des Hirnstammes auf suprakollikulärem Niveau auf die Propagation und Auslösbarkeit einer Spreading Depression.

Die Spreading Depression wird von vielen Autoren als das pathophysiologische Korrelat der Migräneaura angesehen. Alte anekdotische Berichte deuteten daraufhin, dass die Migräneaura beim Patienten durch Gabe systemischer Vasodilatatoren positiv zu beeinflussen ist. Hieraus wurde die heute nicht mehr allgemein akzeptierte Hypothese formuliert, dass die Aura ein primär vaskuläres Phänomen darstellen könnte. Hierauf beziehen sich nun die Autoren in ihrer Studie und finden – nicht überraschend- dass lokale Applikation von Vasodilatatoren keinen Einfluss auf die durch kortikalen Nadelstich ausgelöste Spreading Depression haben. Die Fragestellung zur Rolle des Hirnstammes bei der Spreading Depression basierte zum einen ebenfalls auf älteren Voruntersuchungen, in denen bereits gezeigt worden war, dass eine Transsektion wie hier durchgeführt keinen Einfluss auf lokal ausgelöste Spreading Depressions im Kortex hat. Zudem gibt es klinische Hinweise auf einen Generator bzw. Modulator für die Auslösung von Migräneattacken im Hirnstamm.

In ihrer Studie finden Kaube et al. nun, dass die suprakolikuläre Transsektion keinen Einfluss auf die lokal ausgelöste Spreading Depression hat. Eine wesentliches Problem des hier verfolgten Ansatzes besteht darin, dass eine lokal am Kortex ausgelöste Spreading Depression ein kaum geeignetes Modell darstellt, um einen möglichen Migränegenerator im Hirnstamm zu untersuchen. Die Frage nach der Spreading Depression als Aurakorrelat muss also auch nach dieser Studie weiter offen bleiben. (UD)


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