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02. Migräne, Klinik

** Torelli P, Cologno D, Manzoni GC (1999) Weekend headache: A possible role of work and life-style. Headache 39: 398-408.

In Anamnesegesprächen wird von Patienten immer wieder die sogenannte “Wochenendmigräne” beschrieben, d.h. Migräneattacken, die gehäuft oder ausschließlich am Wochenende auftreten. Obwohl sich in mehreren prospektiven Untersuchungen die Existenz der Wochenendmigräne nicht bestätigen ließ, werden Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und der Nahrungsaufnahme, der Streßabfall zum Wochenende sowie verminderter Koffeingenuß als Ursachen der Wochenendhäufung der Migräne verantwortlich gemacht.

Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, zu ermitteln, inwieweit sich Patienten mit und ohne anamnestischer Wochenendmigräne hinsichtlich beruflicher und familiärer Belastung sowie des Freizeitverhaltens unterscheiden. Hierzu wurden 50 Kopfschmerzpatienten einer italienischen Kopfschmerzambulanz gebeten, sowohl retrospektiv Fragebögen zu diesen Themenbereichen auszufüllen, als auch ein prospektives Kopfschmerztagebuch für insgesamt 8 Wochen zu führen. Anhand der Fragebögen wurden 31 Patienten (20 Frauen, 11 Männer) mit vornehmlichen Wochenendkopfschmerzen ermittelt, die mit den übrigen 19 Kopfschmerzpatienten (18 Frauen, 1 Mann) ohne Wochentagbevorzugung als Kontrollgruppe verglichen wurden. Nicht weniger als 31 Zielvariablen wurden untersucht und tatsächlich werden bei einem Signifikanzniveau von p<0,05 für 8 Variablen signifikante Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsgruppen beschrieben. Doch darf die Validität der Ergebnisse mit einiger Berechtigung bezweifelt werden. Kleine Fallzahlen und viele Untersuchungsparameter bergen in sich grundsätzlich das Risiko falsch positiver Signifikanzen. Im vorliegenden Fall führt dies zu kaum nachzuvollziehenden Aussagen. Frauen mit Wochendmigräne haben demnach im Vergleich mit der Kontrollgruppe einen signifikant kürzeren Weg zur Arbeit, finden die Höhe ihres Gehaltes adäquat, brauchen weniger Arbeit zu Hause zu erledigen und sind doch signifikant unzufriedener mit ihrer Arbeit. Neben diesem methodischen Problem besteht jedoch ein entscheidender inhaltlicher Mangel. Nicht weniger als 30 % der Patienten hätten nach Angaben der Autoren nicht unter einer Migräne sondern einer migräneartigen Störung gelitten. Bei einer beschriebenen durchschnittlichen Attackenzahl von 21,1 (Wochenendmigräne) bzw. 21,7 (Kontrollgruppe) in 8 Wochen darf jedoch selbst diese diagnostische Einordnung bezweifelt werden. Der "typische" Migränepatient scheint in der Studie jedenfalls nicht untersucht worden zu sein. Die eigentlich interessante Aussage der Untersuchung erfolgt entsprechend auch ungewollt. Die Auswertung der prospektiv geführten Kopfschmerzkalender ergab, daß die Frauen mit einer anamnestischen Angabe einer Häufung ihrer “Migräne” am Wochenende im Studienverlauf Kopfschmerzen tatsächlich ohne Wochentagbevorzugung dokumentierten! Das subjektive Gefühl, vermehrt am Wochenende unter Kopfschmerzen zu leiden, ließ sich also nicht objektivieren! Damit stellt sich wieder die Frage, ob die Wochenendmigräne überhaupt existiert oder ob nicht vielmehr Kopfschmerzen am Wochenende einfach einen höheren Leidensdruck erzeugen und damit retrospektiv länger in Erinnerung bleiben. (AHK)

** Stronks DL, Tulen JHM, Pepplinkhuizen L, Verheij R, Mantel GWH, Spinhoven P, Passchier J (1999) Personality traits and psychological reactions to mental stress of female migraine patients. Cephalalgia 19: 566-574.

Seit den 30-iger Jahren wird in der Kopfschmerzforschung das Konstrukt einer Migränepersönlichkeit diskutiert und untersucht. Obwohl zur Untermauerung nur klinische Beobachtungen, projektive Tests und retrospektive Inventare herangezogen wurden, hielt sich bis heute hartnäckig der Eindruck einer unidirektionalen kausalen Beziehung zwischen ungünstigen prämorbiden Persönlichkeits- und Stressverarbeitungsmerkmalen und der Manifestation der Migräne.

Die vorliegende Studie gibt vor, die bisherigen eklatanten methodischen Schwächen in diesem Forschungszweig vermieden zu haben. Sie setzt sich zum Ziel, 1) stressbezogene Persönlichkeitseigenschaften von Migräne (Mig)- und Spannungskopfschmerz (SKS)-Patienten sowie Patienten mit dermatologischen Beschwerden zu vergleichen und 2) diese Gruppen hinsichtlich einer spezifischen Stressreagibilität unter Laborbedingungen zu untersuchen. An der Studie nahmen 23 Mig-, 19 SKS- und 22 dermatologische Patienten teil. Letztere Gruppe wurde zur Kontrolle herangezogen, um einen Bias zwischen Patientenstatus und Nicht-Patienten-Status zu vermeiden. Allen Teilnehmern wurden Trait-Inventare zur Depressivität, Ängstlichkeit und Stressverarbeitung sowie ein Persönlichkeitsfragebogen vorgelegt.

In einem zweiten Untersuchungsteil wurden die Teilnehmer einem mentalen Laborstressor (Rechenaufgaben) ausgesetzt. Vor, während und nach der StressExposition sowie nach einer 20-minütigen Erholungsphase wurden diverse emotionale Zustände (Angst, Depression, Ärger, Anspannung u.ä.) sowie physiologische Masse (HF, BD, EMG; PVA) erhoben. Der mentale Stressor erwies sich bei allen drei Gruppen als sehr wirkungsvoll. Die Kopfschmerzgruppen zeigten untereinander und im Vergleich zur Kontrollgruppe keine Disposition zu einer spezifischen kognitiven oder emotionalen Stressverarbeitung. Es zeigten sich auch keine Unterschiede in den Persönlichkeitsvariablen. Allerdings neigten die Kopfschmerzbetroffenen eher zu einer internal orientierten Stressabwehr und suchten zu diesem Zweck weniger soziale Unterstützung auf als die Kontrollgruppe. Ausserdem erholten sich diese Patienten langsamer von den Stressbedingungen hinsichtlich der Parameter Depressivität, Müdigkeit und Energieverlust.

Die Autoren folgern, dass es keine Migränepersönlichkeit und migräne-spezifische Stressreagibilität gibt. Etwaige besondere Eigenschaften von Migränebetroffenen seien als Reaktion auf die Erkrankung zu verstehen. Das Design dieser Studie ist – gemessen an dem Klärungsanspruch – völlig unzulänglich und wenig innovativ. Die Untersuchung ergänzt lediglich numerisch die inkonsistente und widersprüchliche Befundlage zur Migränepersönlichkeit und zur migränespezifischen Stressverarbeitung. Im experimentellen Teil wird eine differenzierte Beobachtung kognitiver Stressverarbeitungsmechanismen vermisst, von denen bekannt ist, dass sie die physiologischen und emotionalen Stressreaktionen bestimmen. Zudem verschenken die Autoren interessante Erkenntnisse, indem sie zugunsten zweier geteilter Veröffentlichungen darauf verzichten, die Interaktionen der physiologischen und psychologischen Stressreaktionen zu beschreiben. Generell bleibt festzuhalten, dass in derartigen Studien fast immer Patienten untersucht werden, die chronische, oft Jahrzehnte anhaltende Kopfschmerzen haben.

Es steht in Frage, ob bei einer solchen Population überhaupt noch kausale Zusammenhänge aufklärbar sind. Vielmehr ist zu vermuten, dass das System von Gefühlen, Gedanken, Verhalten und Kopfschmerzen sich von den ehemals originalen Verursachungen und Auslösern verselbstständigt hat. Wissenschaftlich belegbar ist hingegen, dass Migränebetroffene im Verhältnis zu kopfschmerzfreien Personen Stress intensiver erleben, Stressoren bedrohlicher bewerten und ihre Bewältigungskompetenz nicht ausreichend nutzen. (GF)

*** Becker WJ (1999) Use of oral contraceptives in patients with migraine. Neurology 53(Suppl 1): S19-S25.

Der Autor gibt eine Übersicht über die Studienlage zu der im Klinikalltag wichtigen Frage, ob eine Migräne ein erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall bedingt und ob die gleichzeitige Gabe von oralen Kontrazeptiva dieses Risiko weiter erhöht. Um diese Frage zu beantworten wird zu einigen Fragen kurz Stellung genommen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen Hormonen und Migräne. Orale Kontrazeptiva haben einen Einfluß auf die Migräne, der im Einzelfall aber sehr variieren kann. Letztlich kommt es bei etwas mehr als einem Drittel der Patientinnen zu einer Verschlechterung, bei 20% zu einer Verbesserung und bei dem Rest bleibt die Migräne unverändert. Darüber hinaus kann es auch zu einer Änderung der Migräne kommen, in der Form, daß erstmals Auren auftreten. Sowohl die vorliegenden Fall-Kontroll-Studien als auch die epidemiologischen Querschnitts- Studien zeigen eine Erhöhung des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit Migräne. Diese Erhöhung ist bei Patienten mit einer Migräne mit Aura ausgeprägter als bei Patienten mit einer Migräne ohne Aura (etwa 6fach zu 2fach erhöhtes Risiko). Umgekehrt findet sich auch eine erhöhte Prävalenz der Migräne bei Schlaganfällen auf Grund einer kardialen Embolie, arteriellen Läsionen oder Anticardiolipin-Antikörpern, so daß anzunehmen ist, daß auch solche Erkrankungen eine Migräne “triggern” können. Es findet sich in Abhängigkeit von der Oestrogen-Dosierung eine Erhöhung des Schlaganfallrisikos und besonders des Risikos einer Hirnvenenthrombose. Kontrazeptiva mit >50mg Oestrogen führen zu einem etwa 4fachen Risiko, Kontrazeptiva mit < 50mg Oestrogen zu einem 1.9 fachen Risiko einen Schlaganfall zu erleiden. Das Risiko einer Hirnvenenthrombose ist sogar 10-13fach erhöht. Ursächlich ist ein Anstieg des Fibrinogen und Abfall des Protein S bedeutsam. Bei gleichzeitig bestehenden weiteren Risikofaktoren wie z.B. Faktor-V-Leiden-Mutation oder APC-Resistenz steigt das Risiko einer Thrombose überproportional an.. Soweit die Daten eine "Hochrechnung" erlauben, ergibt sich eine Erhöhung des Schlaganfallrisikos bei Patientinnen mit einer Migräne bei gleichzeitiger Kontrazeptivaeinnahme. Weitere Einflußgrößen sind Typ der Migräne und Alter. So hat eine 30 jährige Patientin mit einer Migräne ohne Aura und einem niedrig dosierten Kontrazeptivum theoretisch ein 1.5fach erhöhtes Risiko, bei einer Migräne mit Aura ein 9fach erhöhtes Risiko im Vergleich zu einer altersgleichen Kontrollgruppe, die aber Patienten mit "allgemeinen" Risikofaktoren wie Diabetes und Hochdruck umfaßte. Der Autor zieht daraus folgende Empfehlungen: Grundsätzlich sollten Patientinnen mit Migräne darauf hingewiesen werden, daß Kontrazeptiva das Risiko einen Schlaganfall zu bekommen erhöhen. Änderung der Attackenfrequenz oder der Attackenart (Aura!) sollten registriert werden. Bei Patientinnen mit einer Migräne ohne Aura und > 40 Jahre scheint das Risiko relativ klein zu sein, bei Patientinnen mit einer nur kurzen visuellen Aura scheint es ebenfalls vertretbar zu sein. Frauen mit einer Migräne mit prolongierter Aura oder z.B. Aphasie bzw. Parese sollten keine oralen Kontrazeptiva bekommen. Patientinnen, die unter Kontrazeptiva erstmals schwere Auren bekommen, sollten auf orale Kontrazeptiva verzichten. Insgesamt stellt der Artikel eine gute Zusammenfassung der bekannten epidemiologischen Daten dar, ohne daß sich wesentlich neue Erkenntnisse oder Empfehlungen ergeben. Der Autor weist mit recht darauf hin, daß letztlich die Entscheidung nach ausführlicher Aufklärung mit der Patientin individuell getroffen werden muß, da z.B. auch eine ungewollte Schwangerschaft ja zu einem erhöhten Risiko eines Schlaganfalls führt. Zur Führung dieses Gespräches gibt der Artikel aber einige nützliche Hinweise. (AS)

*** Oelkers R, Grosser K, Lang E, Geisslinger G, Kobal G, Brune K, Lötsch (1999). Visual evoked potentials in migraine patients: alterations depend on pattern spatial frequency. Brain 112: 1147-1155

Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine weitere Studie mit visuell evozierten Potentialen bei Migräne. In dieser Arbeit werden erstmals verschieden große Schachbrettmuster abgeleitet. Die Autoren schließen aus einer verzögerten Negativität bei 160 msec für Migräne mit Aura, in geringerem Umfang auch für Migräne ohne Aura, daß das parvo- und magnozelluläre System unterschiedlich betroffen sind.

Etwas störend ist die spekulative Argumentation der Diskussion bezüglich differentieller Effekte des parvo- und magnozellulären Systems. Die Klärung der Frage, inwieweit parvo- und magnozelluläres System bei Migräne selektiv betroffen ist, steht in der Tat noch aus. Hierbei würde man jedoch primär sinnvollere Reizkonstellationen wählen, entweder sinusförmig modulierte Kontrastgitter unterschiedlicher Ortsfrequenzen mit niedrigerem Kontrast oder mit equiluminanten Farbreizen. Die Negativität N2 (inkonsistent einmal als N160 oder N2 beschrieben) wird aufgrund ihrer hohen Latenz von sehr vielen involvierten kortikalen Arealen generiert und hat viel an Spezifität bezüglich parvo- und magnozellulärer Erregung verloren. Von stärkerem Interesse sind eher die psychophysischen Skalierungen, die zeigen, daß Farbillusionen, figurale Illusionen oder unangenehme visuelle Empfindungen bei Migränepatienten deutlich häufiger auftreten als bei normalen Probanden. Die Untersuchungen wurde im attackenfreien Intervall durchgeführt. Es ist zu erwarten, daß bei einer Untersuchung während einer Migräneattacke deutlich stärkere Effekte zu erhalten sind.

Insgesamt ist die Arbeit lesenswert wegen der Intention, parvo- und magnozelluläre Erregung selektiver zu erfassen. (WP)


DMKG