04. Migräne, Pathophysiologie
*** Cumberbatch MJ, Hill RG, Hargreaves RJ (1998) Differential effects of the 5HT1B/1D receptor agonist naratriptan on trigeminal versus spinal nociceptive responses. Cephalalgia 18: 659-663.
Bekanntlich sind die Serotonin (5-HT1)-Rezeptoragonisten aus der Familie der Triptane gute Kopfschmerz- und Migränetherapeutika, während sie bei anderen Schmerzformen so gut wie wirkungslos sind. Dies deutet auf Besonderheiten der Schmerzverarbeitung im trigeminovaskulären System bezüglich 5-HT-vermittelter Mechanismen hin. Während man bis vor kurzem überwiegend der Meinung war, daß die Wirkung der Triptane beim Migräneanfall auf einen peripheren Mechanismus in den Hirnhäuten zurückzuführen sei, mehren sich in letzter Zeit Befunde, welche auf zentrale Wirkungsmechanismen dieser 5-HT1-Rezeptoragonisten hindeuten.
In der vorliegenden tierexperimentellen Studie, die erstmals auf dem Kongress der International Headache Society 1997 in Amsterdam vorgestellt wurde, wurden elektrophysiologische Daten an der Ratte erhoben, die einen Wirkungsunterschied von 5-HT1-Rezeptoragonisten zwischen Neuronen des spinalen trigeminalen Systems und Hinterhornneuronen des Rückenmarks deutlich machen. Verglichen wurden dabei 4 “wide dynamic range” Neurone aus dem Subnucleus caudalis des Nucleus spinalis n. trigemini, die afferenten Einstrom aus der Kopfhaut und der Dura mater erhielten, mit 4 Neuronen aus thorakalen und lumbalen Rückenmarkssegmenten mit afferentem Einstrom aus der Hinterpfote. Zur Aktivierung der Neurone wurden noxische mechanische Stimuli auf die Kopfhaut bzw. die Pfote appliziert. Außerdem wurden 4 Neurone mit Einstrom aus der Dura mater untersucht, die mittels elektrischer Reizung durch ein geschlossenes kraniales Fenster aktiviert wurden. Der 5-HT1B/D-Rezeptoragonist Naratriptan hemmte dabei in einer Dosis von 1-3 mg/kg die Antworten der trigeminalen Neurone auf noxische mechanische und elektrische Stimulation, nicht aber die Antworten der Rückenmarksneurone auf mechanische Stimulation. Dieser Unterschied war trotz der geringen Anzahl signifikant. Offenbar vermindert Naratriptan in dieser Dosierung selektiv die Durchschaltung von Signalen auf die zentralen trigeminalen Neurone. Es ist hier allerdings kritisch anzumerken, daß diese Dosen weit über der klinisch wirksamen Dosierung liegen, so daß hier unspezifische Effekte nicht auszuschließen sind.
Eine andere Arbeitsgruppe (Goadsby & Knight 1997, Br J Pharmacol 122, 918) hatte bereits bei einer Dosis von 30 µg/kg Naratriptan eine signifikante Reduktion der elektrisch evozierten Entladungen der Neurone im spinalen trigeminalen Nucleus der Katze gemessen, wogegen sich in der vorliegenden Studie selbst bei zehnfach höherer Dosis noch keine Unterschiede zwischen trigeminalem und spinalem System ergaben. Eine weitere Schwäche dieser Arbeit besteht darin, daß bei elektrischer Reizung durch den Schädelknochen nicht sicher beurteilt werden kann, ob die rezeptiven Felder in der Dura mater liegen, also der Struktur, von der höchstwahrscheinlich die nozizeptiven Ereignisse bei der Entstehung von Kopfschmerzen ausgehen. Unklar bleibt auch, ob es sich bei den Effekten um prä- oder postsynaptische Vorgänge handelt, d.h. ob Naratriptan an den primären Afferenzen oder den nachgeschalteten Neuronen angreift. Ungeachtet dieser Unsicherheiten ergibt sich aus der Arbeit die interessante Frage, auf welchen Zellen des trigeminalen Systems – zentralen Endigungen primärer Afferenzen, aufsteigenden Neuronen im spinalen trigeminalen Nucleus, hemmenden oder aktivierenden Interneuronen oder gar Neuronen des absteigenden schmerzmodulierenden Systems – die 5-HT1-Rezeptoren zu finden sind, welche die zentralen antinozizeptiven Wirkungen der Triptane vermitteln. (KBM)
**** Limmroth V, May A, Diener HC (1999) Lysin-Acetylsalicylic-Acid in Acute Migraine Attacks. Europ Neurol 41:88-93.
Lysin-Acetylsalicylat (LAS) ist in der Notfallkonsultation und im Status migränosus oft die letzte Therapieoption zur Kupierung der Migräneattacke. Der besondere Vorteil dieser Substanz liegt darin, daß sie nicht vasoaktiv ist. Die Kontraindikationen für die meisten vasoaktiven Substanzen gelten daher für LAS nicht. Darüber hinaus gibt es keine Interferenz mit den Serotoninagonisten zur Akuttherapie der MIgräneattacke. Daher kann LAS auch dann noch eingesetzt werden, wenn eine mangelnde Therapieeffektivität bei vorheriger Gabe eine Serotoninagonisten besteht.
In dieser Studie wird erstmalig die therapeutische Wirksamkeit von LAS bei intravenöser Gabe in einer Dosierung von 1000 mg mit der von Ergotamintartrat 0,5 mg bei subcutaner Gabe bei 56 Patienten verglichen. Darüber hinaus wurde der Wirkmechanismus beider Therapieoptionen analysiert. Methodisch wurde dazu mit Hilfe der Duplexsonographie und der transcraniellen Dopplersonographie die intra- und extracranielle, arterielle Blutflußgeschwindigkeit gemessen. Es zeigte sich, daß beide Substanzen innerhalb von 2 Stunden eine vergleichbare Schmerzreduktion bewirkten. Erwartungsgemäß führt LAS zu einer schnelleren Schmerzreduktion, da die intravenöse Applikation zu schnellerem Plasmaspiegelaufbau führt als die subcutane Applikation von Ergotamin. In der Arbeit wird die weitere Wirkung auf die Migräneattacke über den Zeitraum von 2 Stunden nicht angegeben. Bei Berücksichtigung des Response-Kriteriums klinischer Wirksamkeit, die dadurch definiert ist, daß mindestens 50 % der Schmerzreduktion nach 1 Stunde erreicht wird, zeigt sich, daß durch die Therapie mit LAS signifikant mehr Patienten dieses Kriterium erreichen, als bei der Behandlung mit Ergotamin. Innerhalb einer Stunde wird eine 50%ige Schmerzreduktion durch die Gabe von LAS von 25 Patienten erzielt, während nur 13 der 56 Patienten bei Gabe von Ergotamin dieses Response-Kriterium erreichten. Nach dem Beobachtungszeitraum von 2 Stunden fand sich jedoch bei beiden Gruppen eine gleich hohe Response-Rate.
Signifikante Unterschiede im Hinblick auf die Therapie von Begleitsymptomen der Migräneattacke, wie Übelkeit, Erbrechen, Lärm- und Lichtempfindlichkeit wurden nicht von den Autoren berichtet. LAS zeigte keine bedeutsamen Effekte auf die Blutflußgeschwindigkeit der intra- und extracraniellen Arterien. Dagegen zeigte sich eine Erhöhung der Blutflußgeschwindigkeit der Arteria cerebri media, die gut durch eine Vasokonstriktion zu erklären ist. Erwartungsgemäß fand sich keine Korrelation zwischen den Blutflußgeschwindigkeiten- und der Kopfschmerzänderungen im Rahmen der Therapie. Bei 8 Patienten zeigten sich unerwünschte Arzneimittelwirkungen in Form eines Anstieges von Übelkeit und Erbrechen, wobei bei 7 dieser Patienten Ergotamin während der Attacke verabreicht wurde. Andere Nebenwirkungen berichteten die Autoren nicht.
Diese Studie belegt, daß eine vasoaktive Effektivität einer Substanz nicht erforderlich ist, um schnell und wirksam eine Migräneattacke zu kupieren. Darüber hinaus vergleicht die Studie erstmalig zwei Medikamente, die für die Notfallkonsultation zur Kupierung einer Migräneattacke empfohlen werden. Es zeigt sich, daß bei Gabe von LAS eine sehr schnelle und gut verträgliche Behandlung der akuten Migräneattacke möglich ist und daher im Vergleich zur subcutanen Gabe von Ergotamin präferiert werden kann. (HG)