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Kopfschmerz-News 6/1998 Migräne Klinik – DMKG

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1. Migräne Klinik

** Abraham JT, Brown R, Meltzer HY. (1997) Clozapine treatment of persistent paroxysmal dyskinesia associated with concomitant paroxetine and sumatriptane use. Biol Psychiatry 42: 144-146

Die Autoren berichten über den Fall einer 40 jährigen Patientin mit bipolarer affektiver Psychose ohne neurologische Grunderkrankung bis auf eine bekannte Migäne, die nach 14 tägiger Therapie mit 30 mg Paroxetin, einem potenten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), eine einmalige subcutane Injektion Sumatriptan, einem 5-HT1-Agonisten, erhielt. Nach weiteren 24 Stunden entwickelte die Patientin bis zu fünf mal täglich auftretende, 30 Minuten anhaltende Episoden von cervikaler und segmentaler Rumpfdystonie. Nach Absetzen von Paroxetin führten Anticholinergika und Benzodiazepine zwar zu einer symptomatischen Besserung, nicht aber zu einem Verschwinden. Nach zwei Wochen wurde eine Therapie mit Clozapin begonnen, die unter Aufdosierung auf 100mg tgl. die Episoden zum sistieren brachte. Die Patientin blieb hierunter 6 Monate symptomfrei, ein Auslaßversuch führte sofort zu einem Wiederauftreten. Das Auftreten einer Dystonie unter Therapie mit selektiven Serotonin (5-HT) Wiederaufnahmehemmern wurde seit der Einführung dieser Substanzklasse häufiger berichtet. Pathophysiologisch wird die Rolle der serotoninergen dorsalen Raphekerne mit ihren Projektionen auf die Substantia Nigra und inhibierender Wirkung auf striatale Systeme postuliert. Daß die beschriebene Patientin, die durch ihr Alter, Geschlecht, bekannte Psychose und neuroleptische Vorbehandlung eine erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung dystoner Störungen aufwies, unter einer SSRI-Therapie eine Dystonie entwickelte, ist per se nicht ungewöhnlich.
Kausal erscheint die Therapie mit Paroxetin der entscheidende Auslöser gewesen zu sein. Obwohl die konkomitante einmalige Injektion von Sumatriptan, einem 5-HT1 Agonist, welches in Monotherapie bisher keine dystonen Reaktionen auslöste, ein kontribuierender Faktor gewesen sein mag, erscheint dieses durch das Auftreten der Symptome erst nach Abflauen der Sumatriptan-Wirkung nach 24h unwahrscheinlich.
Klinisch interessant ist die Präsentation in Form einer paroxysmalen Dystonie. Die nicht neue Beobachtung, daß Clozapin, ein gemischter 5-HT, H2 und D2 Blocker in diesem Fall einer wohl Serotonin-Agonisten-induzierten Dystonie durch einen Auslaßversuch belegt wirksam war, zeigt nochmals wie in anderen Publikationen die häufige Effizienz dieser Substanz in der Therapie heterogener dystoner Störungen. Insgesamt lassen sich aus dieser klinisch interessanten Kasuistik weder für das Feld der Dystonie noch des Kopfschmerzes neue pathophysiologische oder therapeutische Schlüsse ziehen. (OK)

**** Winner P, Wasietewieski W, Gladstein J, Linder S, for the Pedatric Headache Committee of the American Association for the Study of Headache. (1997) Multicentre prospective evaluation of proposed pediatric migraine revisions to the IHS criteria. Headache 37: 545-548.

Die diagnostischen Kriterien zur Klassifikation des kindlichen Kopfschmerzes sind verbesserungsbedürftig. Modifikationen der 1988 festgelegten Kriterien werden in dieser Arbeit vorgestellt. Die amerikanische Gruppe fordert Veränderungen der zeitlichen Dauer einer Attacke sowohl der Migräne mit und ohne Aura auf 1 Stunde, die Erweiterung auf sowohl bilateral wie auch unilateral auftretenden Kopfschmerz und die Aufnahme von Photo- und Phonophobie in den diagnostischen Kriterienkatalog. Vorgestellt wird eine Zwischenanalyse von 88 Kindern einer multizentrischen amerikanischen Studie die mittels eines semistrukturierten Interviews untersucht wurden, wobei die derzeit gültigen IHS Kriterien mit den Revisionsvorschlag verglichen wurden. Die Autoren kommen zu der Schlußfolgerung, daß die IHS-R Kriterien zuverlässigere als die derzeit gültigen Kriterien sind (93% vs. 66%). Die Möglichkeit, daß durch eine Veränderung der IHS-Kriterien möglicherweise falsch-positive Diagnosen gestellt werden, ist gegeben. Fehldiagnosen durch Nichtdiagnostizieren von Migräne sind jedoch nachteiliger für Patient und Arzt. Vom klinischen Standpunkt aus gesehen ist eine Modifizierung der IHS Kriterien vor allem was Dauer und Lokalisation des Kopfschmerzes im Kindesalter angeht, sehr zu begrüßen. Die Anamnese im Kindesalter ist nicht nur ungleich schwieriger als im Erwachsenenalter und es bedarf nicht selten einer prospektiven Beobachtungsphase mit Führen eines Tagebuches zur korrekten Diagnosestellung. Die vorgeschlagenen Revisionen ensprechen den Bedürfnissen des klinischen Alltags.
Die IHS Klassifikation ist ein wertvolles und unverzichtbares Instrument für Ärzte und Wissenschaftler, die sich mit Kopfschmerzen beschäftigen, bedarf allerdings nicht nur bei der Klassifikation im Kindesalter einer Revision. Die derzeit gültige IHS Klassifikation dient der wissenschaftlichen Evaluation. Ca. 20 % aller Patienten können derzeit nicht nach gültigen IHS Kriterien diagnostziert werden, so daß die neue Klassifikation sich mehr an klinischen Symtomen orientieren wird und neben neuen Diagnosen auch eine Erweiterung der Symptome beinhalten muß. (AG)

** Holm J, Lokken C, Cook Myers T. (1997) Migraine and stress: a daily examination of temporal relationship in women migraineurs. Headache 37: 553-558

Studien über den Zusammenhang von Migräne und Streß kommen zu dem Schluß: a) Migräne ist assoziiert mit vermehrten Stressoren, die zudem als belastend bewertet und vermeidend bewältigt werden. b) Vorangegangene Attacken erhöhen das Streßerleben. (evident!) c) Erhöhtes Streßerleben ist geeignet, Attacken auszulösen. (sehr große interindividuelle Variabilität!). Der wissenschaftliche Nachweis der Augenscheinvalidität des Zusammenhangs von Migräne und ‘Streß’ leidet jedoch im wesentlichen unter zwei Einschränkungen: Ergebnisse retrospektiver Befragungen sind durch Erinnerungs- und Erfahrungskomponenten konfundiert. Somit ist die interne Validität gering. Experimentellen Untersuchungen dagegen mangelt es an externer Validität.
Die amerikanische Arbeitsgruppe hat versucht, das Dilemma der externen bzw. internen Validität zu lösen, in dem sie 20 Migränikerinnen 2 Monate lang täglich danach beobachtet hat, ob es bei eine zeitliche Korrelation zwischen täglichem Streß und dem Migränegeschehen gibt. Ein Novum der Studie besteht neben der sorgfältigen regressions- und zeitreihenanalytischen Auswertung darin, daß sie – statt die Probanden Stressoren quantifizieren zu lassen – den Fokus auf deren Bewertungs- und Bewältigungsverhalten gelegt hat. Dazu wurden 20 Migräne-Betroffene (Studentinnen im Alter von 18-27 Jahren) instruiert, täglich zu Hause die Schmerzintensität und die Streßinzidenz festzuhalten sowie Inventare zu Bewertungsprozessen und Copingstrategien auszufüllen. Bei 14 Personen (von 20 Teilnehmerinnen) war das Migränegeschehen signifikant korreliert mit der Anzahl oder Intensität der Stressoren, bei 13 mit inadäquaten Streßbewertungen und bei 6 mit dysfunktionalem Coping. Die Anzahl der Wirkrichtungen war in allen drei Beobachtungen nahezu gleichverteilt: Migräne als Vorläufer (1-3 Tage) für Streß, vice versa sowie gleichzeitiges Auftreten.
Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse wie folgt: a) Streß ist ein wichtiger Faktor im Migränegeschehen und b) inadäquates Bewertungs- und Bewältigungsverhalten führt zum Streßerleben. Trotz statistischer Bemühungen kann mit dem vorliegenden Untersuchungsansatz nicht verhindert werden, daß serielle Abhängigkeiten, Zyklen und Trends die Ergebnisse verfälschen. Insbesondere ist die Kritik der Autoren nachvollziehbar, daß die Stimmung sowie Erinnerungs- und Generalisierungstendenzen die Validität täglicher Bewertungs- und Bewältigungseinschätzung stark einschränken können. In die Auswertung gelangten sogar Daten, bei denen zwischen Stressorbenennung und Bewertungseinschätzung bis zu 24 Stunden lagen! Ein weiterer methodischer Mangel ist das geringe Alter (18-27 J.) und die Selektion (Studenten) der Teilnehmer, die die Generalisierbarkeit der Aussagen stark einschränken. Es bleibt zudem offen, wie es zu erklären ist, daß fast die Hälfte der Probanden nur geringfügige oder – wie einer Tabelle zu entnehmen ist – sogar überwiegend negative Korrelationen bezüglich der Hypothesen aufwies.
Aufgrund der geringen Zahl der Teilnehmer, die zudem mit einem Selektionsbias behaftet sind und weiterer methodischer Mängel hat die vorliegende Arbeit eher explorativen Charakter. Weitere Studien zu diesem Thema sollten per Interventionen sicherstellen, daß die Zielpersonen in der Lage sind, Stressoren in ausreichendem Maße zu identifizieren. Klinische Erfahrungen und Literaturhinweise sehen bei Migräne-Betroffenen in dieser Hinsicht deutliche Defizite. Zudem sind verstärkt negative Beurteilungen von Belastungssituationen und inadäquate Bewältigungsstrategien von Migränikern im Ausprägungsgrad abhängig von der Schwere der Erkrankung (Demjen & Bakal, 1986). (GF)

**** Main A, Dowson A, Gross M (1997). Photophobia and phonophobia in migraineus between attacks. Headache 37:492-495

Viele Autoren vermuten, daß bei Migränepatienten eine Überempfindlichkeit der Hirnrinde gegenüber externen Stimuli besteht. Dies ist für den Zeitraum der Migräneattacke klinisch eindeutig belegt, da die Patienten licht- und lärmempfindlich sind und darüber hinaus meistens auch eine Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen haben. Viele Patienten klagen allerdings auch im beschwerdefreien Intervall über eine erhöhte Licht- und Lärmempfindlichkeit. Dies wurde in der vorliegenden Studie untersucht. Zunächst wurden 52 Männer und Frauen im mittleren Alter von 39 Jahren identifiziert, die an einer Migräne mit oder ohne Aura litten. 48 gesunde Kontrollen im mittleren Alter von 36 Jahren wurden ebenfalls untersucht. Migränepatienten und Kontrollpersonen wurden mit Leuchtstärken bzw. Lautstärken unterschiedlicher Intensität konfrontiert und die Schwelle gemessen, an der der entsprechende Sinnesreiz als unangenehm empfunden wurde. Diese psychophysische Technik zeigte, daß Migränepatienten deutlich empfindlicher gegenüber Licht- und Lärmstimuli sind. Die Unterschiede waren hoch signifikant.
Diese Studie belegt eindeutig und objektiv die häufig subjektiv geäußerte Klage von Migränepatienten, über erhöhte Licht- und Lärmempfindlichkeit. Dies kann durchaus erklären, warum Migränepatienten im Rahmen ihrer erhöhten corticalen Erregbarkeit eher zu Auraphänomenen als Korrelat einer spreading depression neigen. (HCD)

Migräne, Klinik, Genetik

*** Russell MB, Diamant M, Nørby S (1997). Genetic heterogeneity of migraine with and without aura in Danes cannot be explained by mutation in mtDNA nucleotide pair 11084. Acta Neurol Scand 96:171-173

Untersuchungen mit Hilfe der Magnet-Resonanz-Spektroskopie bei Migränepatienten zeigten Störungen im Energiestoffwechsel des Gehirns. Diese waren sowohl während wie zwischen Migräneattacken nachweisbar. Ähnliche Veränderungen des Energiestoffwechsels gibt es bei einer Reihe von mitochondrialen Enzephalomyopathien. Vor einiger Zeit wurde an einer japanischen Population von Migränepatienten eine Mutation in einem Gen der Atmungskette I entdeckt. Es handelt sich um die Mutation des mitochondrialen Nukleotidpaares 11084.
Die dänische Arbeitsgruppe untersuchte das Vorliegen oder Fehlen dieser Mutation an 30 Patienten mit einer Migräne ohne Aura, 30 Patienten mit einer Migräne mit Aura und 30 Kontrollpersonen. Bei keiner der Kontrollpersonen und bei keinem der Patienten konnte die in Japan beschriebene Mutation gefunden werden. Dies macht für eine europäische Population sehr unwahrscheinlich, daß eine mitochondriale Mutation als Ursache der Migräne vorliegt. (HCD)

***** Ducros A, Joutel A, Vahedi K, Cecillon M, Ferreira A, Bernard E, Verier A, Echenne B, Lopez de Munain A, Bousser M-G, Tournier-Lasserve E (1997). Mapping of a second locus for familial hemiplegic migraine to 1q21-q23 and evidence of further heterogeneity. Ann Neurol 52:885-890

Bei der familiär hemiplegischen Migräne handelt es sich um eine seltene, dominant vererbte Variante der Migräne. Bei den betroffenen Patienten kann es während der Aura zu einer Hemiparese bis zur Hemiplegie, zu einer Hemianopsie, Parästhesien, einer Hypästhesie und schweren Sprachstörungen kommen. Die Aurasymptome dauern zwischen 30 min und 2 Stunden. Bei sehr schweren Attacken kann es zu einer Bewußtseinsstörung bis zum Koma kommen. Bei einem Teil der Patienten können die Attacken durch leichte Schädelhirntraumen provoziert werden. Bei 20% der betroffenen Familien finden sich mit zunehmendem Alter auch zusätzliche cerebelläre Symptome wie ein Blickrichtungsnystagmus und eine cerebelläre Ataxie. Als erstes konnte ein Genlokus auf dem Chromosom 19 identifiziert werden, der die Alpha-1-A Untereinheit eines P/Q-spannungs-abhängigen Kalziumkanals kodiert. Die französische Arbeitsgruppe identifizierte 7 Familien mit familiär hemiplegischer Migräne, die diesen Genlokus nicht aufwiesen. Bei 3 der Familien konnten sie durch Linkage-Analyse einen neuen Genlokus auf dem Chromosom 1q21-q23 feststellen. Bei einer der Familien litt die Hälfte der Familienmitglieder an einer hemiplegischen Migräne. Allerdings hatte keiner der Patienten mit einer Veränderung auf dem Chromosom 1 cerebelläre Symptome oder Ausfälle.
Interessant ist die weitere Beobachtung, daß es bei einigen Familienmitgliedern zu epileptischen Anfällen mit zeitlichem Zusammenhang mit Migräneattacken kam. In der genannten Region des Chromosoms 1 findet sich die Kodierung für einen Kaliumkanal, der im Gehirn exprimiert wird und über ein G-Protein-gekoppelten Prozeß funktioniert. Ob eine Veränderung an diesem Kaliumkanal bei den betroffenen Patienten nachgewiesen werden kann, ist noch unklar. (HCD)

***** Gardner K, Barmada MM, Ptacek LJ, Hoffman EP (1997). A new locus for hemiplegic migraine maps to chromosome 1q31. Neurology 49:1231-1238

Die amerikanischen Autoren identifizierten eine große Familie mit 39 Familienmitgliedern, die ursprünglich aus Deutschland stammte. 18 dieser Personen litten an einer hemiplegischen Migräne. In einer genetischen Kopplungsanalyse wurde ein Genlokus auf dem Chromosom 1q31 identifiziert. Die hier beschriebene Familie unterscheidet sich von den in Frankreich und Holland beschriebenen Familien dadurch, daß im Vordergrund der neurologischen Symptomatik eine halbseitige Sensibilitätsstörung und nur in geringerem Ausmaß eine Hemiparese bestand. In der Region, in der der jetzt beschriebene Gendefekt liegt, werden verschiedene Untereinheiten von Kalziumkanälen kodiert. Welcher Kalziumkanal aber möglicherweise durch diese Mutation beeinflußt wird, ist noch nicht bekannt. (HCD)


DMKG