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Kopfschmerz-News SEPTEMBER 1997 Migräne Pathophysiologie

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III. Migräne Pathophysiologie

4. ** Totaro R, Marini C, De Matteis G, Di Napoli M, Carolei A (1997). Cerebrovascular reactivity in migraine during headache-free intervals. Cephalagia; 17:191-194

Veränderungen des arteriellen Tonus sind seit über 30 Jahren ein Hauptuntersuchungsgegenstand bei der Pathophysiologie von Migräne-Kopfschmerzen und Aura-Symptomen. Diesbezüglich sind verschiedene Methoden zur Messung des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF) sowie der mittels transkranieller Doppler Sonographie (TCD) die Blutflussgeschwindigkeiten (BFV), einschließlich der Reservekapazität bzw. zerebrovaskulären Reaktivität mit Azetazolamid (Diamox) und CO2-Rück- oder Abatmung angewendet worden. Bisher fanden die meisten Studien während einer Kopfschmerz-Attacke oder Migräne-Aura statt.

In dieser Studie untersuchten die Autoren jeweils 30 Patienten mit Migräne ohne Aura und Migräne mit Aura im Kopfschmerzfreien Intervall und verglichen diese mit 30 alters- und geschlechtsähnlichen Gesunden. Vor und nach jeweils Hyper- und Hypokapnie wurde mit TCD die BFV der A. cerebri media (MCA) untersucht. Diese unterschieden sich in keiner der Gruppen. Der hier berechnete Reaktivitäts-Index (RI) (prozentuale Variation der BFV geteilt durch die absolute Änderung des CO2) war lediglich in der Gruppe der Patienten mit Migräne ohne Aura nach 1-2 Minuten Inhalation von mit 5% CO2 angereicherter Atemluft signifikant niedriger als in den Vergleichsgruppen.

Die Autoren interpretieren dieses Ergebnis als Hinweis für einen erhöhten Gefäßtonus der MCA, der jedoch lediglich bei Hyperkapnie abgrenzbar ist. Hierbei arbeiten die Autoren zusätzlich mit lediglich numerisch unterschiedlichen, jedoch statistisch nicht-signifikanten Unterschieden der BFV. Hinzu kommen verschiedene TCD-eigene Einschränkungen der Interpretation der Ergebnisse, die nicht diskutiert werden, sich jedoch in z. B. den hohen Standardabweichungen der Meßwerte zeigen. Insgesamt wurde eine vieluntersuchte Fragestellung mit bekannten Methoden untersucht und erbrachte wie eine Vielzahl ähnlicher Studien mit z.T. sich widersprechenden Resultaten keine wegweisenden neuen Erkenntnisse. [Eine gute Übersicht zu dieser Thematik findet sich bei Thomsen LL (1995) Eur J Neurol; 2:403-415] (CGH)

5. ***** Ophoff RA, Terwindt GM, Vergouwe MN, van Eijk R, Oefner PJ, Hoffman SMG, Lamerdin JE, Mohrenweiser HW, Bulman DE, Ferrari M, Haan J, Lindhout D, van Ommen G-J B, Hofker MH, Ferrari MD, Frants RR (1997). Familial hemiplegic migraine and episodic ataxia type-2 are caused by mutations in the Ca2+ channel gene CACNL1A4. Cell 87:543-552

Etwa 24% aller Frauen und 12% aller Männer leiden unter Migräne. 20% von diesen haben eine Migräne mit Aura, d. h. mit fokalen neurologischen Ausfällen.

Familien- und Zwillingsstudien legen nahe, daß es bei der Migräne eine wichtige genetische Komponente gibt, die für etwa 50% der Auftretenshäufigkeit verantwortlich ist. Die familiär hemiplegische Migräne (FHM) ist eine seltene autosomal dominante vererbte Variante der Migräne. Bei den meisten Betroffenen kommt es im Rahmen der Aura zu einer ausgeprägten Hemiparese, die mehrere Tage anhalten kann. Andere betroffene Patienten entwickeln im Laufe der Zeit eine progrediente Kleinhirnatrophie.

Eine holländische und eine französische Arbeitsgruppe hatten bereits zuvor den Genlokus für FHM auf dem Chromosom 19p13 lokalisiert. Die episodische Ataxie Typ 2 ist eine andere autosomal dominante Erkrankung, bei der es intermittierend zu Kleinhirnfunktionsstörungen kommt, wobei ein Teil der Patienten aber auch eine progrediente Kleinhirnatrophie aufweist. Diese Patienten leiden während der Attacken zusätzlich unter Kopfschmerzen. Auch für diese Krankheit wurde der Genlokus auf dem Chromosom 19p13 gefunden.

Die holländische Arbeitsgruppe unterstellte daher, daß es sich bei der familiär hemiplegischen Migräne möglicherweise wie bei anderen paroxysmalen neurologischen Krankheiten um die Funktionsstörung eines Ionenkanals handelt, und suchten daher gezielt nach genetischen Markern für Ionenkanäle in dem entsprechenden Abschnitt auf dem Chromosom 19. Sie fanden einen P/Q-Typ Calciumkanal (CACNL1A4), dessen Alpha-1-Untereinheit auf dem Chromosom 19 codiert wird. Bei den fünf Familien mit familiär hemiplegischer Migräne wurden insgesamt vier verschiedene Mutationen in dem Gen gefunden, das den Calciumkanal codiert. Eine Northern-Blot-Analyse zeigte, daß dieser Rezeptor fast ausschließlich im Kleinhirn, im Cortex, im Thalamus und in geringerem Umfang in der Niere exprimiert wird. Patienten mit episodischer Ataxie Typ 2 hatten ebenfalls genetische Veränderungen an diesem Calciumkanal, wobei diese an anderer Stelle lokalisiert waren als bei der familiär hemiplegischen Migräne.

Diese Entdeckung ist außerordentlich wichtig. Sie erklärt zum einen für eine seltene Unterform der Migräne das paroxysmale Auftreten. Der nächste Schritt muß nun sein, den gefundenen Calciumkanal modifizieren zu können. Auf diese Weise können möglicherweise neue Medikamente entwickelt werden, die entweder migräne-prophylaktisch wirken oder die Migräneaura beeinflussen können. (HCD)

6. ***** Ackerman MJ, Clapham DE (1997). Ion channels – basic science and clinical disease. N Engl J Med 336:1575-1586

Die Übersichtsarbeit über die Funktion und Pathophysiologie von Ionenkanälen ist die ideale Ergänzung zu der Arbeit der holländischen Arbeitsgruppe über die Entdeckung eines Gendefektes in einem Calciumkanal bei der familiär hemiplegischen Migräne.

Ionenkanäle befinden sich in der Zellmembran. Sie regulieren die Homöostase von Ionen wie Calcium, Natrium, Kalium und Chlorid. Sie regulieren den Einstrom von Calcium oder Natrium in die Zelle, den Ausstrom von Kalium, um die Zelle zu repolarisieren und Homöostase von Chlorid. Typische Erkrankungen von Ionenkanälen umfassen die zystische Fibrose, die familiäre Nephrolithiasis, eine hereditäre Form der Hypertonie (Liddles-Syndrom), das Syndrom der verlägerten QT-Zeit, die Myotonie vom Typ Becker, die kongenitale Myasthenie, die hyper- und hypokaliämische periodische Lähmung, die maligne Hyperthermie, die Paramyotonia congenita und die Thomson’sche angeborene Myotonie. Bei der hyperkaliämischen periodischen Lähmung handelt es sich um die Störung eines Natriumkanals in der Skelettmuskulatur. Bei der hypokaliämischen periodischen Lähmung findet sich die Störung eines Calciumkanals. Die meisten Ionenkanäle bestehen aus Untereinheiten, wobei die transmembranösen Anteile durchnumeriert werden als S1 bis S6. Der Calciumkanal hat eine Alpha-Untereinheit, die vier Wiederholungen dieser Untereinheiten darstellt. Spannungsabhängige Kaliumkanäle haben vier Untereinheiten.

Eine Vielzahl von Medikamenten greift an Ionenkanälen an. So wirken viele Calciumantagonisten und Anti-hypertensiva über Calciumkanäle, Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Phenytoin und Valproinsäure über den Natriumkanal, andere Antikonvulsiva wie Clonazepam, Phenobarbital und Anxiolytika wie Diazepam über den Chloridkanal und Klasse III-Antiarrhythmika und Antihypertensiva wie Diazoxid und Menoxidil über den Kaliumkanal.

Es wird in Zukunft interessant sein, ob andere paroxysmale Erkrankungen in der Neurologie ebenfalls als genetisch determinierte Kanalerkrankungen identifiert werden. Dies hätte mit Sicherheit auch therapeutische Konsequenzen. (HCD)

7. ***** Williamson DJ, Hargreaves RJ, Hill RG, Shepheard SL (1997). Intravital microscope studies on the effects of neurokinin agonists and calcitonin gene-related peptide on dural vessel diameter in the anaesthetized rat. Cephalalgia 17:518-524

Bei der neurogenen Entzündung spielen Neuropeptide wie Calcitonin gene-related peptide, Substanz P und Neurokinin A eine wichtige Rolle. Bisher wurde die Wirkung dieser Substanzen aber in vivo Modellen nicht ausreichend untersucht.

Die Arbeitsgruppe aus dem Labor der Fa. Merck Sharp und Dohme entwickelte eine elegante neue Technik, um in vivo bei der Ratte das Verhalten von Arterien in der Dura zu untersuchen. Zu diesem Zweck wird bei der anästhesierten Ratte der Schädelknochen so lange abgefräst, bis die Duraarterien sichtbar werden. Das Loch wird dann mit Mineralöl gefüllt und die Gefäßweite durch eine intravitale Mikroskopie gemessen. In diesem Modell führte die intravenöse Gabe von Substanz P und Calcitonin gene-related peptide zu einer Vasodilation von Gefäßen in der Dura. Die Wirkung von Substanz P konnte völlig durch den NK1-Rezeptorantagonisten RP67580 aufgehoben werden. Die Wirkung von CGRP wurde durch ein Bruchstück des menschlichen CGRP, das antagonistisch wirkt, nämlich Alpha-CGRP(8-37) aufgehoben. Neurokinin A führte ebenfalls zu einer Vasodilatation, die durch einen NK1-Rezeptorantagonisten aber nicht durch einen NK2-Rezeptorantagonisten aufgehoben werden konnte. Der NK3-Rezeptoragonist Senktide hatte keinen Einfluß auf die Weite von duralen Arterien.

Diese Studie zeigt eindrucksvoll, daß in vitro Ergebnisse auch in vivo erzielt werden können. Weiterhin zeigt sich, daß die NK2- und NK3-Rezeptoren für die Vasodilatation von duralen Arterien wohl keine relevante Rolle spielen. Ergebnisse am Menschen mit dem NK1-Rezeptorantagonisten RPR100,893 und LY-3870 zeigen allerdings keine Wirkung bei der Migräne, so daß wenn überhaupt nur der CGRP-Rezeptor für die menschliche Migräne eine relevante Rolle spielen dürfte. (HCD)

8. **** Shepheard SL, Williamson DJ, Beer MS, Hill RG, Hargreaves RJ (1997). Differential effects of 5-HT1B/1D receptor agonists on neurogenc dural plasma extravasation and vasodilation in anaesthetized rats. Neuropharmacology 36:525-533

Neurogene Entzündung und Wirkung von Serotoninagonisten auf Vasodilatation wurde bisher nur in experiementellen Modellen untersucht, bei denen die Tiere anschließend getötet werden mußten oder bei denen isolierte Arterien verwendet wurden.

Die Arbeitsgruppe um Hargreaves hat eine neue Technik entwickelt, bei der intravital bei der Ratte die Weite von duralen Gefäßen gemessen werden kann. Dies eröffnet neue Möglichkeiten, die Pharmakologie von Serotoninagonisten zu untersuchen. Im vorliegenden Experiment wurden drei Substanzen eingesetzt. Zum einen Sumatriptan, zum anderen CP-122,288, eine Substanz, die mit hoher Potenz die neurogene Entzündung hemmt, aber nur geringe vasokonstriktive Eigenschaften hat. CP-93129 hat sowohl vasokonstriktive Eigenschaften und wirkt auch als Hemmer der neurogenen Entzündung. Die neurogene Entzündung wurde durch Extravasation von radioaktiv markiertem Albumin nach leichter elektrischer Stimulation des Ganglion trigeminale untersucht. Die neurogene Entzündung wurde von allen drei Substanzen gehemmt und zwar in der Reihenfolge CP-122288, Sumatriptan, CP-93129. Die Vasodilatation wurde durch eine elektrische Stimulation von Fasern des N. trigeminus erzeugt. Vasokonstriktiv wirkten die Substanzen in folgender Reihenfolge: CP-93129, Sumatriptan, CP-122288. Eine weitere Analyse zeigte, daß die Hemmung der neurogenen Entzündung am ehesten über 5-HT1D-Rezeptoren vermittelt wurde. Die Vasokonstriktion wird dagegen über 5-HT1B-Rezeptoren gesteuert. In diesem Modell führt die Aktivierung von A-Delta-Fasern des N. trigeminus zu einer Vasodilatation in der Dura, währenddessen die Aktivierung von C-Fasern des N. trigeminus zur Extravasation und neurogenen Entzündung führt.

Diese beiden Mechanismen könnten von großer Bedeutung für die Behandlung der menschlichen Migräne sein. Wünschenswert wäre eine Substanz, die die neurogene Entzündung hemmt aber nicht gleichzeitig vasokonstriktiv wirkt. So könnten theoretisch die potentiellen Nebenwirkungen an den Coronarien vermieden werden. In der Zwischenzeit ist allerdings bekannt, daß CP-122,288 bei der menschlichen Migräne unwirksam ist. Dies würde nahelegen, daß Serotoninagonisten vasokonstriktive Eigenschaften haben müssen, um bei der menschlichen Migräne wirksam zu sein. (HCD)

9. ***** Williamson, DJ. Hargreaves, RJ. Hill, RG. Shepheard, SL. (1997) Sumatriptan inhibits neurogenic vasodilation of dural blood vessels in the anaesthetized rat – intravital microscope studies. Cephalalgia 17: 525-531

Die Autoren stellen hier ein neues Tiermodell zur Migräne vor, daß deshalb so interessant ist, weil es zum einen physiologischer ist als das inzwischen überholte Moskowitz Modell, und zum anderen neben der Testung einer potentiellen Antimigräne- Substanz klinisch relevante Hinweise für die Pathophysiologie der Migräne liefern kann.

Es handelt sich um die sog. intravitale Mikroskopie, in der durch ein geschlossenes kraniales Fenster direkt die Gefäßweite eines duralen Gefäßes mittels einer Videoeinheit quantitativ gemessen werden kann. Inzwischen hat diese Gruppe einige interessante Publikationen veröffentlicht, in der hier vorliegenden wurde nachgewiesen, daß sowohl Sumatriptan, als auch der CGRP Antagonist human-(CGRP die elektrisch induzierte Gefäßweitstellung in diesem Modell unterdrücken kann. Dies war mit dem NK1-Antagonisten RP67580 nicht möglich. Zusammenfassend schließen die Autoren, daß die neurogene Vasodilatation nicht durch Neurokine, wohl aber durch CGRP vermittelt wird. Substanz P spielt eine wesentliche Rolle im bisherigen Tiermodell für Migräne, ist jedoch im Gegensatz zu CGRP beim Menschen in der Migräneattacke nicht erhöht.

Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses Modell durchsetzt, bisher aber waren Substanzen die beim Menschen nicht wirkten (im Gegensatz zum Moskowitzmodell) auch in diesem Tiermodell nicht wirksam. (MAY)


DMKG