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Kopfschmerz-News März 1997

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II. Migräne Pathophysiologie

1. **** Ahmed MAS, Reid E, Cooke A, Arngrimsson R, Tolmie JL, Stephenson JBP (1996) Familial hemiplegic migraine in the west of scotland: a clinical and genetic study of seven families. Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry (61): 616-620.

Bei der familiär hemiplegischen Migräne (FHM) handelt es sich um eine rare Sonderform der Migräne, die aufgrund ihres distinkten Krankheitsbildes in die operativen Kriterien der IHS aufgenommen wurde. Es ist darüberhinaus die einzige Kopfschmerzform, für die eine genetische Anlage sicher angenommen werden kann. In der vorliegenden Arbeit berichten die Autoren von 7 Familien im Westen Schottlands, bei denen klinisch eine autosomal dominant vererbte FHM vorliegt. Es handelt sich somit um die ersten publizierten Fälle in Grossbritanien, die Gesamtzahl der publizierten Familien liegt damit bei knapp 50. In drei der sieben Familien konnte eine genetische Linkage-Analyse für das Chromosom 19p durchgeführt werden. Nur in einer dieser drei Familien fand sich der für die FHM vorbeschriebene Gendefekt. Interessant ist hierbei, daß das Krankheitsbild der Familien trotzdem als sehr einheitlich beschrieben wird. Keiner der untersuchten Familienmitglieder wies die klinischen Symptome einer cerebellären Ataxie oder eines Nystagmus auf, Symptome, die bei den Gendefekt positiven Familien in rund 40-50% gefunden werden.

Zusammenfassend erhöht sich damit die Anzahl der in der Linkage-Analyse positiven FHM-Familien auf 9 von 17 untersuchten Familien mit FHM. Somit unterstüzt der vorliegende Artikel die Tatsache, daß von einer genetischen Heterogenität auszugehen ist, so daß etwa 50% der FHM-Familien den Defekt auf einem anderen, bisher unbekannten Genlocus besitzen. (MAY)

2. ***** Strassmann AM, Raymond SA, Burstein R (1996) Sensitization of meningeal sensory neurons and the origin of headaches. Nature 384: 560-564.

Seit den Arbeiten von Wolff in den 60iger Jahren ist allgemein anerkannt, daß der Schmerz der primären Kopfschmerztypen wie Migräne oder Cluster seinen Ursprung in den großen Blutleitern oder der Dura hat. Die bislang beste pathophysiologische Vorstellung der eigentlichen Kopfschmerz Genese lieferten tierexperimentelle Befunde, die eine sog. neurogene aseptische Entzündung mit perivaskulärem Exsudat der duralen Gefäße postulierten. Entzüdungsparameter und Austritt von Neuropepiden würden demnach unmyelierte C-Fasern oder A-Delta-Fasern depolarisieren und die trigeminalen Kerngebiete reizen. Nicht erklärt werden konnte bislang, weshalb bei Migräne und anderen Kopfschmerzen typischerweise eine Verstärkung des Schmerzes durch intrakranielle Druckerhöhung wie körperliche Anstrengung oder Husten hervorgerufen wird. In der vorliegenden tierexperimentellen Arbeit gingen die Autoren dieser Frage nach und konnten eindrucksvoll zeigen, daß durch kontinuierliche Reizung von trigeminalen Schmerzfasern eine zentrale Rekrutierung und sog. Wind-up hervorgerufen wird. Nach chemisch-toxischer Reizung von duralen Schmerzfasern mit Capsaicin, KCl oder einem Cocktail von Entzündungsparametern konnte in den trigeminalen Kerngebieten eine zusätzliche Rekrutierung mechanischer Afferenzen nachgewiesen werden, wie es als zentrale Sensitization in dem patho-physiologischen Verständnis von chronischen Schmerzsyndromen schon seit langem diskutiert wird. Mechanisch recht unempfindliche Afferenzen werden demnach durch chemische Reizung rekrutiert und für mechanische Manipulation empfindlich. Im Sinne dieses Wind-up’-Phänomen würde jegliche mechanische Belastung wie z.B. eine intrakranielle Druckerhöhung eine Verstärkung des initialen Schmerzreizes hervorrufen. Erklärt werden könnte hiermit auch der pulsierende Charakter des Migräne Kopfschmerzes: Nicht die postulierte arterielle oder durale Vasodilatation sondern der vorher schmerzlose mechanische Reiz der arteriellen Pulsation würde durch zentrale Sensitization zu einem nozizeptiven Reiz werden. Demnach wäre ein vasokonstriktiver Effekt einer Substanz nicht nötig, um eine Migräneattacke zu coupieren. Allerdings berichtet nur ein gewisser Prozentsatz von Migränepatienten von einem pulsierenden Charakter ihrer Kopfschmerzen. Die Autoren weisen daher ausdrücklich darauf hin, daß nicht nur die trigeminalen Afferenzen der Arteriolen oder Sinus eine Sensitization hervorrufen, sondern auch trigeminale Afferenzen der Dura selber. Leider untersuchten oder berichten die Autoren nicht, ob Migräne-Therapeutika auch nach Rekrutierung und zentraler Sensitization in ihrem Tiermodell die nozizeptiven Afferenzen im Tierversuch hemmen. Die bisherigen neurophysiologischen Experimente zur Kopfschmerz Entstehung und Wirkungsweise von neuen Substanzen ignorieren die Tatsache eines wind-up Phänomen. Wenn im Menschen während der Migräneattacke eine Sensitivisierung stattfindet, muss man eine Wirkung der bisher gängigen Migräne Akuttherapeutika in diesem Tiermodell postulieren. (MAY)

3. **** Chronicle EP, Mulleners WM (1996) Visual system dysfunction in migraine: a review of clinical and psychophysical findings Cephalagia 16:525-535

Migräne ist in vielfältiger Weise mit visuellen Phänomenen assoziiert, z.B. in Form der visuellen Aura, Photophobie oder der Auslösung von Migräneattacken durch visuelle Stimuli, um nur die bekanntesten klinischen Merkmale zu nennen. Im Gegensatz zu den recht zahlreichen elektrophysiologischen Arbeiten zum visuellen System bei Patienten mit Migräne widmet sich die vorliegende Übersichtsarbeit klinischen und der experimentellen Psychophysik entstammenden einschlägigen Forschungsresultaten. Beginnend mit Funktionsstörungen des Auges (Brechkraft, Glaukom, Pupille) über das okulomotorische System (Ophtalmoplegie, Diplopie), Funktionen der Netzhaut (retinale Migräne) und der zentralen Sehbahn (Flimmerverschmelzungsfrequenz) bis hin zum visuellen Kortex (migränöse Aura) werden zunächst entsprechende und oftmals wenig eindeutige Einzelbefunde von den Autoren referiert. Besonders hervorgehoben werden in diesem Review dabei einerseits übereinstimmende Befunde hinsichtlich Störungen der Pupillenfunktion sowohl im Migräneanfall als auch im Intervall im Sinne einer sympathischen Hypofunktion, entweder als Folge einer zentralen monoaminergen Defizits oder als Folge einer postganglionären sympathischen Funktionsstörung, andererseits verweisen die Autoren auf eine Mehrzahl von psychophysikalischen Studien, die insbesondere bei Migräne mit Aura eine bestehende kortikale Hypersensitivität auf visuelle Stimuli hin nachweisen konnten. Dagegen bisher kaum erschöpfend untersucht seien die durch visuelle Stimuli getriggerten Migräneattacken ebenso wenig wie Photophobie als Begleitphänomen von Attacken. Diese Übersichtsarbeit ist insbesondere durch ihre Ausrichtung auf Studien aus dem Bereich der experimentellen Psychophysik (subjektives Erleben objektiver Reizgegebenheiten) interessant und kommt u.a. letztlich zu ähnlichen Schlüssen (kortikale Hypersensitivität) wie sie einschlägige psychophysiologische Studien, z.B. durch die Bestimmung der contingenten negativen Variation (CNV), nahelegen. (UN)

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