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Gibt es noch eine Indikation für den Einsatz von ergotaminhaltigen Präparaten in der akuten Migräneattacke? – Ein Diskussionsbeitrag

 

online gestellt: Apr. 2000

Therapieempfehlungen der Deutschen Migräne- und

Kopfschmerzgesellschaft

Gibt es noch eine Indikation für den Einsatz von

ergotaminhaltigen Präparaten in der akuten Migräneattacke? –

Ein Diskussionsbeitrag

Zunehmend umstritten ist in den letzten Jahren, ob es überhaupt noch

eine Indikation für den Einsatz von ergotaminhaltigen Präparaten

zur Behandlung der akuten Migräneattacke gibt. Grund für die

Debatte ist das weite Nebenwirkungsspektrum dieser Präparate im

Vergleich zu einfachen Analgetika und zu den Triptanen. Zur genauen

Einordnung des Stellenwertes muß daher eine Abwägung erfolgen

zwischen der Wirksamkeit und den Nebenwirkungen im Vergleich zu

Präparaten mit gleicher Indikation. Neben diesem medizinischen Aspekt

muß dann noch der ökonomische Aspekt bedacht und abgewogen

werden. Im folgenden soll in einem subjektiven kurzen Diskussionsbeitrag

analysiert werden, welche Argumente noch für oder jetzt gegen einen

Einsatz ergotaminhaltiger Präparate sprechen, wobei nicht zwischen

Ergotamintartrat und Dihydroergotamin (DHE) unterschieden wird, da DHE bei

oraler Applikation praktisch kaum resorbiert wird und bei rektaler oder

subkutaner/intramuskulärer Applikation kein hinreichender

pharmakologischer Unterschied besteht. Ein solcher Diskussionsbeitrag kann

nicht vollständig sein und spiegelt in den Bewertungen

ausschließlich die Meinung des Referenten wider.

Zur Wirksamkeit ergotaminhaltiger Präparate

Obwohl Ergotaminpräparate zu den ältesten spezifischen

Migränemedikamenten gehören und der Einsatz jahrzehntelang weit

verbreitet gewesen ist, gibt es nur sehr wenig wissenschaftliche Studien,

die eine Wirksamkeit nachweisen (Dahlöf 1993). So haben sich z.B.

ergotaminhaltige Suppositorien als schlechter wirksam erwiesen als

Ketoprofen (Kangasniemi und Kaaja 1992), Ergotamintartrat war signifikant

schlechter wirksam als Acetylsalicylsäure (ASS) plus Metoclopramid (Le

Jeunne et al. 1999) und nur in einer kleinen Studie besser wirksam als ASS

(Hakkarainen et al. 1980). Noch weniger untersucht ist der direkte Vergleich

zwischen ergotaminhaltigen Präparaten und anderen

Migränemedikamenten. In den derzeit gültigen Therapieempfehlungen

der DMKG (Diener et al. 1997) werden sie alternativ zu oralen Triptanen

empfohlen, wenn einfache Analgetika nicht ausreichend wirksam sind.

Ein spezifisches Einsatzgebiet von ergotaminhaltigen Präparaten stellt

die Notfallsituation dar, in der z.B. DHE i.m., s.c. oder i.v. gegeben

werden kann (Diener et al. 1997). Hier stehen mit Sumatriptan s.c. und

Lysin-ASS i.v. zwei hochwirksame Therapieformen zur Verfügung, die sich

zwar geringfügig unterscheiden, beide aber eine so hohe Wirksamkeit

aufweisen, daß sie von ergotaminhaltigen Präparaten praktisch

nicht übertroffen werden kann (Diener et al. 1999).

Nebenwirkungen ergotaminhaltiger Präparate

Ergotamininduzierter Kopfschmerz

Der dauernde Gebrauch von ergotaminhaltigen Präparaten führt zu

einer Abhängigkeit und zu einem Dauerkopfschmerz. Dieses Phänomen

ist bereits in den 50er Jahren erkannt worden. Die Kopfschmerzklassifikation

der IHS berücksichtigt dieses Phänomen eigenständig und

grenzt es von anderen durch Analgetika induzierten Kopfschmerzen ab

(Diagnosegruppe 8.2.1 versus 8.2.2; Headache Classification Committee 1988).

Voraussetzung für die Diagnose ist die tägliche Einnahme von

ergotaminhaltigen Präparaten, obwohl viele Studien zeigen konnte,

daß auch eine Einnahmefrequenz von unter 30 Tagen pro Monat zu einem

Dauerkopfschmerz führen kann (Evers et al. 1999). Zwar können auch

Triptane mißbräuchlich eingenommen werden und dann zu einem

Dauerkopfschmerz führen, das Risiko für einen Mißbrauch und

das Risiko eines Dauerkopfschmerzes bei Mißbrauch ist jedoch für

Triptane signifikant niedriger als für ergotaminhaltige Präparate

(Evers et al. 1999).

Periphere Nebenwirkungen

Ergotaminhaltige Präparate machen vor allem zwei periphere

Nebenwirkungen: neuropathische Veränderungen und angiopathische

Veränderungen. Bei den neuropathischen Veränderungen handelt es

sich vor allem um eine distal-symmetrische Polyneuropathie, deren

Ausmaß bei gleichzeitiger Einnahme von Betablockern noch

ausgeprägter sein kann (Husstedt et al. 1989). Eine Polyneuropathie

durch einfache Analgetika oder durch Triptane ist bislang nicht berichtet

worden, für Triptane sind dem Referenten diesbezüglich aber auch

keine Studien bekannt. Angiopathische Nebenwirkungen finden sich sowohl auf

mikroangiopathischer Ebene als auch auf makroangiopathischer Ebene. Die

Mikroangiopathie durch Ergotamin ist in der Medizingeschichte gut bekannt

(sog. Ignis sacer), sie kann auch zu Schleimhautveränderungen der

Rektumschleimhaut bei Mißbrauch von Suppositorien führen

(Dahlöf 1993). Die Makroangiopathie durch Ergotaminmißbrauch kann

zu einer eingeschränkten Distensibiltität der großen

Gefäße führen (Barenbrock et al. 1996) und somit z.B. eine

arterielle Hypertonie fördern. Für Sumatriptanmißbrauch

konnte eine solche makroangiopathische Veränderung nicht festgestellt

werden (unveröffentlichte Daten des Referenten).

Kardiovaskuläre Nebenwirkungen

Sowohl für ergotaminhaltige Präparate als auch für Triptane

gibt es eine Reihe von Berichten über kardiovaskuläre Ereignisse.

Dabei konnte ein kausaler Zusammenhang für die Triptane bis heute nicht

zweifelsfrei nachgewiesen werden; die in den Studien signifikant

gehäuft auftretenden klassischen “Brustnebenwirkungen” der Triptane

(Engegefühl, Druck etc.) sind wahrscheinlich nicht kardiogen, sondern

Motilitätsstörungen des Ösophagus. Für ergotaminhaltige

Präparate ist dagegen klinisch wesentlich eindeutiger belegt, daß

sie zu Herzinfarkten führen können. Auch die pharmakologischen

Profile der Substanzen sprechen dafür, daß Herzinfarkte – wenn

überhaupt – eher durch ergotaminhaltige Präparate als durch

Triptane ausgelöst werden, da diese eine längere

vasokonstriktorische Wirkung im Koronarmodell haben (MaassenVandenBrink et

al. 1998).

Zentrale Nebenwirkungen

Dauergebrauch von ergotaminhaltigen Präparaten führt zu einer

Verlangsamung der cerebralen Verarbeitungszeit und der Reaktionszeit, die

auch durch einen Entzug nicht vollständig reversibel ist (Evers et al.

1999). Triptane zeigen diese Nebenwirkung nicht (Evers et al.1995), wobei

jedoch darauf hingewiesen werden muß, daß Langzeitbeobachtungen

über zentrale Nebenwirkungen durch Triptane noch nicht vorliegen.

Ökonomische Aspekte

Ergotaminhaltige Präparate sind als Einzeldosis sehr viel billiger als

Triptane und nur unwesentlich teurer als einfache Analgetika (Einzeldosis je

nach Applikationsform ca. zwischen 0,50 und 2,- DM für Ergotamine und

ca. 20,- und 74,- DM für Triptane). Dies berücksichtigt

natürlich nur die Gabe des Medikaments in der einzelnen Attacke.

Perspektivisch muß daran gedacht werden, daß Ergotamine

schneller zu einer Abhängigkeit und zu stärkeren Nebenwirkungen

führen (mit den Konsequenzen der Kosten für Entzugsbehandlung und

Behandlung von Nebenwirkungen einschließlich des

Produktivitätsausfalls). Auch eine zusätzliche prophylaktische

Behandlung relativiert die Kosten in diesem Zusammenhang nicht automatisch,

da hier auch die Wirksamkeit der einzelnen Präparate mit

berücksichtigt werden muß. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive

(Kosten-Nutzen-Analyse) war in einer kanadischen Studie der Einsatz von

oralem Sumatriptan im Vergleich zu ergotaminhaltigen Präparaten

gerechtfertigt (Evans et al. 1997).

Schlußfolgerung

Sowohl in der Routinebehandlung von akuten Migräneattacken als auch in

der Notfallsituation gibt es für ergotaminhaltige Präparate keine

medizinische Indikation. In der Abwägung Wirksamkeit versus

Nebenwirkungen sprechen alle medizinischen Argumente für ein

zweistufiges Schema der Bahandlung akuter Migräneattacken mit einfachen

Analgetika plus Adjuvantien wie Metoclopramid an erster Stelle und den

Triptanen an zweiter Stelle; für die Notfallsituation können

zusätzlich intravenöse Substanzen gegeben werden (Lysin-ASS,

Nova-minsulfon). Auch das ökonomische Argument spricht nur

vordergründig für ergotaminhaltige Präparate, da es im

Gruppenvergleich zwischen allen Patienten, die Triptane einnehmen, und

denjenigen, die Ergotamine einnehmen, zusätzlich die hohen

Sekundärkosten für die Nebenwirkungen der Ergotamine

berücksichtigen muß.

Patienten, die Migräneattacken subjektiv befriedigend und

nebenwirkungsarm mit ergotaminhaltigen Präparaten behandeln können

und die eine niedrige Einnahmefrequenz zeigen (d.h. ca. eine Einzeldosis pro

Woche), sollten versuchsweise auf einfache hochdosierte Analgetika mit

vorheriger Gabe von Adjuvantien eingestellt werden. Sollte dies subjektiv

nicht befriedigend sein, sieht der Referent jedoch keine Notwendigkeit,

diese Patienten auf Triptane umzustellen.

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