Therapieempfehlungen der Deutschen Migräne- und
Kopfschmerzgesellschaft
Gibt es noch eine Indikation für den Einsatz von
ergotaminhaltigen Präparaten in der akuten Migräneattacke? –
Ein Diskussionsbeitrag
Zunehmend umstritten ist in den letzten Jahren, ob es überhaupt noch
eine Indikation für den Einsatz von ergotaminhaltigen Präparaten
zur Behandlung der akuten Migräneattacke gibt. Grund für die
Debatte ist das weite Nebenwirkungsspektrum dieser Präparate im
Vergleich zu einfachen Analgetika und zu den Triptanen. Zur genauen
Einordnung des Stellenwertes muß daher eine Abwägung erfolgen
zwischen der Wirksamkeit und den Nebenwirkungen im Vergleich zu
Präparaten mit gleicher Indikation. Neben diesem medizinischen Aspekt
muß dann noch der ökonomische Aspekt bedacht und abgewogen
werden. Im folgenden soll in einem subjektiven kurzen Diskussionsbeitrag
analysiert werden, welche Argumente noch für oder jetzt gegen einen
Einsatz ergotaminhaltiger Präparate sprechen, wobei nicht zwischen
Ergotamintartrat und Dihydroergotamin (DHE) unterschieden wird, da DHE bei
oraler Applikation praktisch kaum resorbiert wird und bei rektaler oder
subkutaner/intramuskulärer Applikation kein hinreichender
pharmakologischer Unterschied besteht. Ein solcher Diskussionsbeitrag kann
nicht vollständig sein und spiegelt in den Bewertungen
ausschließlich die Meinung des Referenten wider.
Zur Wirksamkeit ergotaminhaltiger Präparate
Obwohl Ergotaminpräparate zu den ältesten spezifischen
Migränemedikamenten gehören und der Einsatz jahrzehntelang weit
verbreitet gewesen ist, gibt es nur sehr wenig wissenschaftliche Studien,
die eine Wirksamkeit nachweisen (Dahlöf 1993). So haben sich z.B.
ergotaminhaltige Suppositorien als schlechter wirksam erwiesen als
Ketoprofen (Kangasniemi und Kaaja 1992), Ergotamintartrat war signifikant
schlechter wirksam als Acetylsalicylsäure (ASS) plus Metoclopramid (Le
Jeunne et al. 1999) und nur in einer kleinen Studie besser wirksam als ASS
(Hakkarainen et al. 1980). Noch weniger untersucht ist der direkte Vergleich
zwischen ergotaminhaltigen Präparaten und anderen
Migränemedikamenten. In den derzeit gültigen Therapieempfehlungen
der DMKG (Diener et al. 1997) werden sie alternativ zu oralen Triptanen
empfohlen, wenn einfache Analgetika nicht ausreichend wirksam sind.
Ein spezifisches Einsatzgebiet von ergotaminhaltigen Präparaten stellt
die Notfallsituation dar, in der z.B. DHE i.m., s.c. oder i.v. gegeben
werden kann (Diener et al. 1997). Hier stehen mit Sumatriptan s.c. und
Lysin-ASS i.v. zwei hochwirksame Therapieformen zur Verfügung, die sich
zwar geringfügig unterscheiden, beide aber eine so hohe Wirksamkeit
aufweisen, daß sie von ergotaminhaltigen Präparaten praktisch
nicht übertroffen werden kann (Diener et al. 1999).
Nebenwirkungen ergotaminhaltiger Präparate
Ergotamininduzierter Kopfschmerz
Der dauernde Gebrauch von ergotaminhaltigen Präparaten führt zu
einer Abhängigkeit und zu einem Dauerkopfschmerz. Dieses Phänomen
ist bereits in den 50er Jahren erkannt worden. Die Kopfschmerzklassifikation
der IHS berücksichtigt dieses Phänomen eigenständig und
grenzt es von anderen durch Analgetika induzierten Kopfschmerzen ab
(Diagnosegruppe 8.2.1 versus 8.2.2; Headache Classification Committee 1988).
Voraussetzung für die Diagnose ist die tägliche Einnahme von
ergotaminhaltigen Präparaten, obwohl viele Studien zeigen konnte,
daß auch eine Einnahmefrequenz von unter 30 Tagen pro Monat zu einem
Dauerkopfschmerz führen kann (Evers et al. 1999). Zwar können auch
Triptane mißbräuchlich eingenommen werden und dann zu einem
Dauerkopfschmerz führen, das Risiko für einen Mißbrauch und
das Risiko eines Dauerkopfschmerzes bei Mißbrauch ist jedoch für
Triptane signifikant niedriger als für ergotaminhaltige Präparate
(Evers et al. 1999).
Periphere Nebenwirkungen
Ergotaminhaltige Präparate machen vor allem zwei periphere
Nebenwirkungen: neuropathische Veränderungen und angiopathische
Veränderungen. Bei den neuropathischen Veränderungen handelt es
sich vor allem um eine distal-symmetrische Polyneuropathie, deren
Ausmaß bei gleichzeitiger Einnahme von Betablockern noch
ausgeprägter sein kann (Husstedt et al. 1989). Eine Polyneuropathie
durch einfache Analgetika oder durch Triptane ist bislang nicht berichtet
worden, für Triptane sind dem Referenten diesbezüglich aber auch
keine Studien bekannt. Angiopathische Nebenwirkungen finden sich sowohl auf
mikroangiopathischer Ebene als auch auf makroangiopathischer Ebene. Die
Mikroangiopathie durch Ergotamin ist in der Medizingeschichte gut bekannt
(sog. Ignis sacer), sie kann auch zu Schleimhautveränderungen der
Rektumschleimhaut bei Mißbrauch von Suppositorien führen
(Dahlöf 1993). Die Makroangiopathie durch Ergotaminmißbrauch kann
zu einer eingeschränkten Distensibiltität der großen
Gefäße führen (Barenbrock et al. 1996) und somit z.B. eine
arterielle Hypertonie fördern. Für Sumatriptanmißbrauch
konnte eine solche makroangiopathische Veränderung nicht festgestellt
werden (unveröffentlichte Daten des Referenten).
Kardiovaskuläre Nebenwirkungen
Sowohl für ergotaminhaltige Präparate als auch für Triptane
gibt es eine Reihe von Berichten über kardiovaskuläre Ereignisse.
Dabei konnte ein kausaler Zusammenhang für die Triptane bis heute nicht
zweifelsfrei nachgewiesen werden; die in den Studien signifikant
gehäuft auftretenden klassischen “Brustnebenwirkungen” der Triptane
(Engegefühl, Druck etc.) sind wahrscheinlich nicht kardiogen, sondern
Motilitätsstörungen des Ösophagus. Für ergotaminhaltige
Präparate ist dagegen klinisch wesentlich eindeutiger belegt, daß
sie zu Herzinfarkten führen können. Auch die pharmakologischen
Profile der Substanzen sprechen dafür, daß Herzinfarkte – wenn
überhaupt – eher durch ergotaminhaltige Präparate als durch
Triptane ausgelöst werden, da diese eine längere
vasokonstriktorische Wirkung im Koronarmodell haben (MaassenVandenBrink et
al. 1998).
Zentrale Nebenwirkungen
Dauergebrauch von ergotaminhaltigen Präparaten führt zu einer
Verlangsamung der cerebralen Verarbeitungszeit und der Reaktionszeit, die
auch durch einen Entzug nicht vollständig reversibel ist (Evers et al.
1999). Triptane zeigen diese Nebenwirkung nicht (Evers et al.1995), wobei
jedoch darauf hingewiesen werden muß, daß Langzeitbeobachtungen
über zentrale Nebenwirkungen durch Triptane noch nicht vorliegen.
Ökonomische Aspekte
Ergotaminhaltige Präparate sind als Einzeldosis sehr viel billiger als
Triptane und nur unwesentlich teurer als einfache Analgetika (Einzeldosis je
nach Applikationsform ca. zwischen 0,50 und 2,- DM für Ergotamine und
ca. 20,- und 74,- DM für Triptane). Dies berücksichtigt
natürlich nur die Gabe des Medikaments in der einzelnen Attacke.
Perspektivisch muß daran gedacht werden, daß Ergotamine
schneller zu einer Abhängigkeit und zu stärkeren Nebenwirkungen
führen (mit den Konsequenzen der Kosten für Entzugsbehandlung und
Behandlung von Nebenwirkungen einschließlich des
Produktivitätsausfalls). Auch eine zusätzliche prophylaktische
Behandlung relativiert die Kosten in diesem Zusammenhang nicht automatisch,
da hier auch die Wirksamkeit der einzelnen Präparate mit
berücksichtigt werden muß. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive
(Kosten-Nutzen-Analyse) war in einer kanadischen Studie der Einsatz von
oralem Sumatriptan im Vergleich zu ergotaminhaltigen Präparaten
gerechtfertigt (Evans et al. 1997).
Schlußfolgerung
Sowohl in der Routinebehandlung von akuten Migräneattacken als auch in
der Notfallsituation gibt es für ergotaminhaltige Präparate keine
medizinische Indikation. In der Abwägung Wirksamkeit versus
Nebenwirkungen sprechen alle medizinischen Argumente für ein
zweistufiges Schema der Bahandlung akuter Migräneattacken mit einfachen
Analgetika plus Adjuvantien wie Metoclopramid an erster Stelle und den
Triptanen an zweiter Stelle; für die Notfallsituation können
zusätzlich intravenöse Substanzen gegeben werden (Lysin-ASS,
Nova-minsulfon). Auch das ökonomische Argument spricht nur
vordergründig für ergotaminhaltige Präparate, da es im
Gruppenvergleich zwischen allen Patienten, die Triptane einnehmen, und
denjenigen, die Ergotamine einnehmen, zusätzlich die hohen
Sekundärkosten für die Nebenwirkungen der Ergotamine
berücksichtigen muß.
Patienten, die Migräneattacken subjektiv befriedigend und
nebenwirkungsarm mit ergotaminhaltigen Präparaten behandeln können
und die eine niedrige Einnahmefrequenz zeigen (d.h. ca. eine Einzeldosis pro
Woche), sollten versuchsweise auf einfache hochdosierte Analgetika mit
vorheriger Gabe von Adjuvantien eingestellt werden. Sollte dies subjektiv
nicht befriedigend sein, sieht der Referent jedoch keine Notwendigkeit,
diese Patienten auf Triptane umzustellen.
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