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Kopfschmerz-News

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04. Migräne, Pathophysiologie

**** Siniatchkin M, Kirsch E, Kropp P, Stephani U, Gerber WD. Slow cortical potentials in migraine families. Cephalalgia 2000;20:881-892

Zusammenfassung: In vielen Studien ist in den letzten Jahren bereits festgestellt worden, dass Migränepatienten zwischen den Migräneattacken eine reduzierte Habituation in Bezug auf die kognitive Reizverarbeitung aufweisen. Wesentlich zu diesen Forschungen beigetragen hat die Kieler Arbeitsgruppe um Prof. Gerber, die mit dieser Publikation eine Vergleichsuntersuchung der Contingent Negative Variation (CNV) zwischen Familien mit und ohne Migräne präsentiert. Dabei ist in 43 Familien, in denen wenigstens ein Kind unter Migräne leidet, die CNV von den betroffenen Kindern, den jeweiligen gesunden Geschwistern und den Eltern abgeleitet worden. Parallel wurden 41 Familien untersucht, in denen kein Mitglied unter Migräne leidet. Von der CNV wurden die frühe Amplitude und deren Habituationsverhalten bei repetitiver Messung ausgewertet. Dabei erwies sich das Habituationsverhalten (d.h. die Veränderung der CNV-Amplitude bei repetitiver Messung) als sensitiver, jedoch nicht sehr spezifischer Parameter für das Vorliegen einer Migräne. Das Ausmaß des Habituationsverlustes bei Migränepatienten korrelierte hoch signifikant mit dem Alter. Interessanterweise zeigten die gesunden Kinder, unabhängig davon, ob ihre Geschwister unter Migräne litten oder nicht, einen Habituationsverlust, während gesunde Erwachsene immer eine zunehmende Habituation zeigten, unabhängig davon, ob sie Kinder mit Migräne haben oder nicht. In der Analyse der einzelnen Familien zeigte sich, dass in gesunden Familien keine Transmission des Habituationsverhaltens oder der Morphologie der CNV auftritt, während in Familien mit Migränepatienten eine hohe Segregation zwischen CNV-Parametern und dem Vorliegen einer Migräne beobachtet werden kann.

Kommentar: Die Studie bestätigt zum einen nochmals eindrucksvoll, dass das kognitive Habituationsverhalten von Patienten mit Migräne sich zwischen den Attacken von dem Gesunder unterscheidet. Dies gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Neues Ergebnis der Studie ist, dass bei Migränekindern erst mit zunehmendem Alter eine ausreichende Differenzierung zu gesunden Kindern anhand des Habituationsverhaltens möglich ist. Außerdem belegt die hohe Transmission der CNV-Parameter von Migräneeltern auf Migränekinder, in Zusammenschau mit der niedrigen Spezifität, aber hohen Sensitivität der CNV-Parameter für die Diagnose einer Migräne, dass die migränetypisch reduzierte Habituation eher eine genetische Prädisposition darstellt als einen genetisch unabhängigen Risikofaktor. Dies macht die diagnostischen Verfahren der kognitiven Potentiale nicht zuletzt auch wertvoll für die phänotypische Charakterisierung von Migränepatienten bei molekulargenetischen Studien. (SE)

***** Ebersberger A, Schaible H-G, Averbeck B, Richter F. Is there a correlation between spreading depression, neurogenic inflammation, and nociception that might cause migraine headache? Ann Neurol 2001;49:7-13

Zusammenfassung: Eines der gängigen Modelle zur Entstehung der Migräne geht davon aus, dass es im Rahmen der Aura zu elektrophysiologischen Mechanismen im Bereich des Kortex kommt, die der spreading depression im Tierexperiment entsprechen. Nach dieser Hypothese sollten die spreading depression dann zu einer Plasmaextravasation in der Dura mater führen und diese wiederum zur Erregung von Nozizeptoren und erhöhter Aktivität trigeminaler Neurone im Nucleus caudalis des Hirnstamms und Rückenmarks. Die Autoren aus Jena überprüften diese Hypothese tierexperimentell an Ratten. Sie lösten bei Ratten entweder einzelne Wellen einer spreading depression oder wiederholte kortikale Hemmungen aus und maßen die Plasmaextravasation der Dura durch Albumin gekoppeltes Fluorescin. Wiederholte und einzelne spreading depressions waren nicht in der Lage, eine Plasmaextravasation zu induzieren. Wurde im Bereich der Dura Kaliumchlorid in Dosierungen appliziert, wie sie während einer spreading depression gefunden werden, führte dies auch nicht zu einer Freisetzung von CGRP (Calcitonin generelated peptide) und Prostaglandin E2 in der Dura. Bei 33 Ratten führte weder eine einzelne noch wiederholte spreading depressions zu einer Änderung neuronaler Aktivität von Neuronen in der Tiefe des Nucleus caudalis bei mechanischer oder thermischer Stimulation

Kommentar: Die hier durchgeführten Tierexperimente legen nahe, dass ei/ne spreading depression nicht direkt zu einer neurogenen Entzündungsreaktion führt. Eine spreading depression war auch nicht in der Lage, die Schwelle oder Empfindlichkeit von Neuronen im Nucleus caudalis des Trigeminus zu modulieren. Diese Ergebnisse sind in guter Übereinstimmung mit humanen Experimenten von A. May, der zeigen konnte, dass es eine neurogene Entzündung während der Migräneattacke beim Menschen wahrscheinlich nicht gibt (May et al, Brain 1998;121:1231-1237). Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass die hier gewonnenen Ergebnisse nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar sind. Es könnte durchaus sein, dass Migränepatienten eine genetische Variante haben, die dazu führt, dass eine kortikale spreading depression tatsächlich zu einer Schwellenveränderung trigeminaler Neurone führt. Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre, dass die Aura der Migräne pathophysiologisch getrennt abläuft von der Entstehung der Kopfschmerzen, die dann folgen. (HCD)

***** Bahra A, Matharu MS, Büchel C, Frackowiak RSJ, Goadsby PJ. Brainstem activation specific to migraine headache. Lancet 2001;357:1016-1017

Zusammenfassung: Unsere Arbeitsgruppe in Essen hatte im Jahre 1995 in der Zeitschrift Nature Medicine über positronenemissionstomographische Untersuchungen bei neun Migränepatienten berichtet und dabei einen Aktivierungsherd während akuter Migräneattacken im dorsalen rostralen Hirnstamm nachgewiesen (Weiller et al.; Nature Med 1995;1:658-660). Es handelte sich dabei allerdings um die summierten Werte dieser neun Patienten. Die Arbeitsgruppe um Goadsby in London versuchte jetzt bei einem Patienten mit Clusterkopfschmerz eine entsprechende Attacke durch die Gabe eines Nitrats zu provozieren. Interessanterweise erlitt der Patient eine typische Migräneattacke und nicht eine Clusterattacke. Den Autoren gelang es, bei diesem Patienten positronenemissionstomographische Messungen vor Auftreten der Kopfschmerzen, während der Kopfschmerzen und nach Behandlung der Kopfschmerzen mit 6 mg Sumatriptan aufzuzeichnen. Sie beobachteten eine Aktivierung im rostralen Hirnstamm und eine ausgeprägte bilaterale Aktivierung im Bereich intra- und extrakranieller Blutgefäße. Die übrigen Hirnregionen, die aktiviert wurden, sind Bereiche, die unspezifisch für Schmerzempfindung sind und umfassten das vordere und hintere Cingulum sowie den präfrontalen und insulären Cortex, den Thalamus, den parietalen Cortex und den Nucleus lentiformis.

Kommentar: Die hier durchgeführte Studie ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert.
1. Durch diese Einzel-Fallstudie lassen sich die Ergebnisse von Weiller et al. aus dem Jahre 1995 reproduzieren und bestätigen.
2. Die Ergebnisse zeigen ganz eindeutig, dass bei Migräneattacken andere Hirnstrukturen im Hirnstamm aktiviert werden als beim Clusterkopfschmerz. Dies gilt auch für Menschen, die sowohl unter Clusterkopfschmerzattacken wie unter Migräneattacken leiden.
3. Ein weiteres Ergebnis der Publikation aus dem Jahre 1995 ließ sich reproduzieren, nämlich dass die Aktivität im Hirnstamm anhält, wenn die Attacke erfolgreich mit Sumatriptan behandelt wurde.

Dies belegt eindeutig, dass die Struktur im Hirnstamm nicht direkt mit der Schmerztransmission assoziiert ist. Leider haben die Autoren unterlassen, den Zeitgang der Aktivierung verschiedener Hirnregionen im Verlauf der Attacke zu bestimmen. Nur aus dem zeitlichen Verlauf der Aktivierung kann ermessen werden, ob es sich bei der Struktur im Hirnstamm um den Migränegenerator handelt oder um eine Struktur mit hemmenden Eigenschaften, die versucht, die Migräneattacke zu beenden. (HCD)

*** Sarchielli P, Alberti A, Codini M, Floridi A, Galai V. Nitric oxide metabolites, prostaglandines and trigeminal vasoactive peptides in internal jugular vein blood during spontaneous migraine attacks. Cephalalgia 2000; 20: 907-918.

Zusammenfassung: Der Freisetzung von vasoaktiven Peptiden wie Calcitoningenerelatedpeptide (CGRP), Substanz P (SP) oder Neurokinin A (NKA) wird eine Schlüsselrolle in der Pathogenese des Migränekopfschmerzes zugeschrieben. Die Frage ob die Freisetzung dieser Peptide auch im intrazerebralen venösen Kreislauf stattfindet ist bislang jedoch nicht untersucht. Ein anderes s.g. „Keymolecule“ in der Pathogenese des Migränekopfschmerzes ist offensichtlich NO. Ergebnisse mehrerer Studien deuten auf eine mögliche Interaktion zwischen CGRP und NO, die genauen Mechanismen sind jedoch nach wie vor unklar. In der vorliegenden Studie wurde nun die Freisetzung von vasoaktiven Peptiden (CGRP und NKA), algogenen Prostaglandinen (PGE2, PGI2, 6 keto PGF2) sowie NO (NO-metabolite – Nitrite) im intrazerebralen venösen Kreislauf während der akuten Migräneattacke und interiktal untersucht. Fünf Patienten wurden Blutproben 30 Minuten, 1-, 2-, und 4- Stunden nach dem Anfang der Migräneattacke von der Vena jugularis interna entnommen und analysiert. CGRP, NKA und Nitrite zeigten sich erhöht in der akuten Migräneattacke, erreichten den Maximum nach 1 Stunde und fielen langsam wieder ab. Der Gehalt von PGE2 sowie 6 keto PGF2 erreichte den maximalen Wert nach 2 Stunden und fiel ebenfalls ab.

Kommentar: Die Untersuchung der Neuropeptid- sowie NO-Freisetzung im intrazerebralen venösen Kreislauf ist sicherlich ein interessanter Ansatz. Die Studie unterstreicht noch ein Mal den Vielfalt und Komplexität der Migräne – Pathophysiologie und trägt zum weiteren Verständnis bei. (ZK)

**Yilmaz M, Bayazit YA, Erbagci I, Pence S. Visual evoked potential changes in migraine – Influence of migraine attack and aura. J Neurol Sci 2001;184:139-141

Zusammenfassung: Yilmaz et al. leiteten an 45 Migränepatienten und 22 Gesunden ein Schachbrett-VEP mit einer Kippfrequenz von 2 Hz bei monokularer Stimulation ab. Die Migränegruppe (Altersbereich: 11 – 64 Jahre, 29 davon Migräne ohne Aura, MoA) war mit der gesunden Gruppe altersvergleichbar (15 – 60 Jahre). Bei 18 Patienten mit Migräne mit Aura (MA) wurde im Anfall gemessen, ebenso bei 8 Patienten ohne Aura. Lediglich in der MA-Gruppe konnten signifikant längere N2 – Latenzen im Vergleich zum Anfall und zur Kontrollgruppe beobachtet werden. Daraus schließen die Autoren, dass Kopfschmerz und Aura unterschiedlichen Ursprungs entstammen. Eine verlängerte N2-Latenz sollte demnach die MA-Diagnose bestätigen. Insgesamt jedoch soll die VEP-Messung nur sehr begrenzt bei Migränediagnose einsetzbar sein.

Kommentar: Leider ist der Publikation in methodischer Hinsicht nicht viel zu entnehmen. So unterscheiden die Autoren in ihren Messergebnissen zwar zwischen Anfall und Intervall, jedoch findet man keine Angaben zum Abstand der Messungen vom letzten bzw. zum nächsten Migräneanfall. Dies ist umso bedauerlicher, als man kurz nach dem Anfall keine Unterschiede mehr zur Messung im Anfall findet. Auch zu der Messung während des Anfalls gibt es keine näheren Angaben. Dauerte der Anfall schon Stunden an, wurde er möglicherweise medikamentös kupiert? Die untersuchte Gruppe besteht auch aus Kindern, die, so weiß man aus anderen EP-Studien, ganz andere VEP-Verläufe im Vergleich zu Erwachsenen aufweisen. Besser wäre auf jeden Fall gewesen, wenn man eine reine Erwachsenengruppe dargestellt hätte. Modernere Gesichtspunkte, wie z.B. Habituationscharakteristiken der Amplituden, wurden nicht erwähnt (wen wundert es, wenn 85% der zitierten Publikationen älter als 5 Jahre ist!) . Die Schlussfolgerung, dass VEP-Studien nur bei MA aussagekräftig sein mögen, ist angesichts der spärlichen Methodik deshalb sehr gewagt. (PK)


DMKG