10. Medikamenten-induzierter Kopfschmerz
*** Gaist D. Use and overuse of sumatriptan. Pharmacoepidemiological studies based on prescription register and interview data. Cephalalgia 1999;19:735-761.
Zusammenfassung: Sumatriptan ist seit fast 10 Jahren zur Behandlung akuter Migräneattacken zugelassen. 1994 wurden die ersten Berichte publiziert, daß es wie bei Mutterkornalkaloiden auch unter Sumatriptan zu einer Erhöhung der Attackenfrequenz, zur vermehrten Einnahme und zum medikamteninduzierten Dauerkopfschmerz kommen kann. Der Autor hat in drei konsekutiven Studien das Problem des Sumatriptanabusus in Dänemark untersucht. Die erste Studie wurde in dem Landkreis Funen in Dänemark durchgeführt. Es wurden 21.470 Rezepte ausgewertet, auf denen Sumatriptan verschrieben worden war. Zugleich wurden auch alle anderen Substanzen ausgewertet, die für dieselben Personen verschrieben worden waren. Auf diese Weise konnten Alter, eingenommene Sumatriptanmenge, eingenommene Menge an Mutterkornalkaloiden und Opioiden berechnet werden. In der zweiten Studie wurden alle Verschreibungen in Dänemark im Zeitraum zwischen Januar 1994 und Dezember 1995 ausgewertet, bei denen Sumatriptan verschrieben worden war. Hier handelte es sich um 355.368 Verschreibungen. Hier wurde die Einjahresprävalenz und die Inzidenz des Gebrauchs von Sumatriptan berechnet. In der dritten Studie wurden Patienten, die ein Rezept über Sumatriptan einlösten, in 26 Apotheken daraufhin angesprochen, ob sie bereit wären, einen Fragebogen auszufüllen und an einem struktuierten Interview teilzunehmen. Die Teilnehmer, die sich dazu bereit erklärten, wurden interviewt und von einem Neurologen untersucht. Für die hier vorliegende Studie wurde eine Definition gewählt, die für chronische Sumatriptaneinnahme eine tägliche oder fast tägliche Einnahme über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten umfaßte. Patienten mit Clusterkopfschmerz wurden ausgeschlossen. Häufige Sumatriptaneinnahme war definiert als mehr als 24 Dosierungen in den vorangegangenen 12 Monaten.
In der ersten Studie im Landkreis Funen ergab sich, daß 2.878 Personen ein Rezept mit Sumatriptan abgegeben hatten, 78% davon waren Frauen, das mittlere Alter betrug 43 Jahre. Ein Prozent der Betroffenen konsumierten 20% der Gesamtverschreibung. Von den Patienten, die sehr häufig Sumatriptan verwendeten (n=26) benutzten 2/3 mehr als 30 tägliche Dosierungen innerhalb von 30 Tagen. Bei Patienten mit hohem Sumatriptankonsum wurde auch überproportional häufig Opioide, Mutterkornalkaloide und andere starke Analgetika verschrieben. In der Studie, die sich über gesamt Dänemark erstreckte, wurden 2,2 Mill. Einheiten Sumatriptan verkauft. Diese verteilten sich auf 43.389 Patienten. Von Anfang 1994 bis Ende 1995 nahm der Gebrauch von Sumatriptan um etwa die Hälfte zu. Vier Prozenz der Patienten konnten als häufige Benutzer von Sumatriptan, 1,1% als Patienten bezeichnet werden, die Sumatriptan mißbrauchten. Zusammen verbrauchten diese 5,1% der Patienten fast 40% des gesamten verschriebenen Sumatriptans. An der Interviewstudie nahmen 196 Patienten teil, die weniger als 30 Dosierungen von Sumatriptan/Monat verbrauchten, 30, die zwischen 30-59 Dosierungen benötigten und sieben, die mehr als 60 Einzeldosen/Monat einnahmen. Patienten, die Sumatriptan mißbrauchten, berichteten auch, daß sie häufig schon zuvor andere Medikamente mißbräuchlich eingenommen hatten. 83% der Patienten hat eine Migräne, 9% Spannungskopfschmerzen und nur zwei Patienten Clusterkopfschmerz. Es zeigte sich also, daß ein großer Überlappungsbereich zwischen Migräne und Spannungskopfschmerz bestand.
Kommentar: Diese Studie zeigt eindrucksvoll, daß etwa 8% aller Migränepatienten in Dänemark Sumatriptan einnehmen. Von diesen wiederum benutzen 1-4% die Substanzen mißbräuchlich. Hier sind bereits Patienten mit Clusterkopfschmerz, bei denen durchaus eine Indikation für die tägliche Gabe von Sumatriptan bestehen kann, ausgeschlossen. Der überwiegende Teil der Patienten nahm auch andere Schmerz- und Migränemittel, so daß, wie auch in Deutschland zu beobachten, offenbar Patienten, die zuvor Ergotamin mißbräuchlich einnahmen, dazu tendieren, auch Sumatriptan täglich oder fast täglich einzunehmen. In der Zwischenzeit hat sich aber das Bild gewandelt. Es werden jetzt zunehmend auch de Novo Patienten beobachtet, die früher keinen Ergotamin- oder Schmerzmittelabusus betrieben haben und trotzdem “Triptan” abhängig werden. Weiterhin zeigen neue Untersuchungen, daß die Abhängigkeit und die Entwicklung eines medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes sich nicht auf Sumatriptan beschränkt, sondern alle Triptane diese Fähigkeit haben. Es sieht so aus, als würden die ZNS-gängigen Triptane wie Naratriptan und Rizatriptan dieses Phänomen sogar noch schneller hervorrufen als Sumatriptan. Für die Praxis resultiert daraus, daß die Verschreibung von Triptanen verantwortungsbewußt durchgeführt werden muß und das kritische Monatsdosen zu beachten sind. (HCD)
*** Evers S, Gralow I, Bauer B, Suhr B, Buchheister A, Husstedt I, Ringelstein E. Sumatriptan and ergotamin overuse and drug-induced headache: A clinicoepidemiological study. Clinical Neuropharmacology 1999; 22: 201-206
Zusammenfassung: In dieser epidemiologischen Studie wurde die Häufigkeit des Sumatriptan- bzw. Ergotamin-Mißbrauches sowie die Inzidenz des medikamenteninduzierten Kopfschmerzes an einer großen Population von Kopfschmerzpatienten untersucht. In die Studie wurden 2065 Patienten eingeschlossen, die im vergangenen Jahr mindestens einmal ein Ergotaminderivat oder Sumatriptan eingenommen hatten. Zwei Untergruppen, Patienten mit Ergotamineinnahme (n=620) und Patienten mit Sumatriptaneinnahme (n=631), wurden gebildet. Alle Patienten mit zusätzlicher regelmäßiger Einnahme von anderen Substanzen wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Die Häufigkeit des Medikamentenabusus, Dauer des Abusus, Anzahl der Einnahmedosen pro Monat, Inzidenz des medikamenteninduzierten Kopfschmerzes, Häufigkeit und Art der Nebenwirkungen sowie die Symptomatik des Entzugskopfschmerzes in der Ergotamin- und Sumatriptangruppe wurden verglichen. Als Abusus wurde eine regelmäßige – wenigstens ein Jahr lang, an mehr als 18 Tagen/Monat – Medikamenteneinnahme definiert. Die Häufigkeit des Abusus war in der Sumatriptangruppe deutlich niedriger als in der Ergotamingruppe. Auch die Inzidenz des medikamenteninduzierten Kopfschmerzes in der Sumatriptangruppe war signifikant niedriger. Andererseits war die Abususdauer sowie die Anzahl der Einnahmedosen pro Monat in der Sumatriptangruppe deutlich niedriger als in der Ergotamingruppe. Ebenfalls war die Entzugssymptomtik bei den Patienten mit dem sumatriptaninduzierten Kopfschmerz viel leichter als in der Ergotamingruppe. Nach Ansicht der Autoren ist eine niedrige Abusus- sowie Kopfschmerzrate in der Sumatriptangruppe am ehesten durch die hohe Spezifität von Sumatriptan zu 5-HT1B/1D Rezeptoren zu erklären. Dies sei ebenfalls die Ursache der minimalen Entzugssymptomatik bei Sumatriptanabusern. Ein zusätzlicher Faktor seien die hohen Kosten von Sumatriptan. Und letztlich müsse in Betracht gezogen werden, daß die ergotaminhaltigen Präparate häufig zusätzliche Komponenten wie Codein, Koffein oder Propyphenazon enthalten.
Kommentar: Insgesamt ist dies die erste größere Populationsvergleichsstudie. Die Studie hat ein gutes “Design” und ist an einer großen Patientenpopulation sauber durchgeführt worden. Trotzdem sind die eigentlichen Vergleichsgruppen, insbesondere die Sumatriptanabusergruppe (n=22) zu klein. Zu beachten ist auch, daß die Studie in den Jahren 1993-1996 (unmittelbar nach der Zulassung von Sumatriptan) durchgeführt worden ist. In unserer eigenen Patientenpopulation beobachten wir aktuell ein Häufigkeitsverhältnis Sumatriptan/Ergotamin deutlich zugunsten von Sumatriptan (trotz weiterhin höherer Kosten). Darüberhinaus fällt eine weitere wichtige Diskrepanz der Ergebnisse auf. Einerseits weist die Sumatriptangruppe die niedrigere Abusus- und Kopfschmerzrate, andererseits jedoch eine deutlich niedrigere kritische Abususdauer und eine deutlich geringere Anzahl der Einnahmedosen pro Monat auf. Und diese wichtige Beobachtung kann unseres Erachtens anhand dieser Studie nicht erklärt werden. Es fällt weiterhin eine weitere, im Hintergrund stehende, jedoch wichtige Beobachtung auf. 27% der Patienten der Ergotamingruppe (immerhin 168 Patienten) wurden fälschlicherweise von ihrem Hausarzt Ergotaminderivate zur Behandlung des Spannungskopfschmerzes verschrieben. (ZK)