Forschungsergebnisse der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft
Als die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) im Jahre 1988 ihre Kriterien zur Klassifikation und Diagnose der Kopfschmerzen publizierte (1) war der Begriff chronische, tägliche Kopfschmerzen nicht enthalten. Dies beruhte darauf, daß zum damaligen Zeitpunkt keine prospektiv erhobenen Daten zur Inzidenz, klinischen Ausprägung, Pathophysiologie und Therapie dieser Kopfschmerzform vorlag. Dies hat sich in der Zwischenzeit geändert (2). Die diagnostischen Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft dienen allerdings in erster Linie dazu, im Rahmen der Kopfschmerzforschung möglichst homogene Patientenpopulationen bezüglich einer Kopfschmerzart zu kreieren. Sie sind nicht primär dafür gedacht, einzelne Patienten diagnostisch einzuordnen.
Arten des chronischen Kopfschmerzes:
Unter einem chronischen Kopfschmerz wird üblicherweise ein kontinuierlicher Kopfschmerz verstanden, der täglich oder fast täglich vorhanden ist. Im Rahmen dieser Darstellung sollen sekundäre Kopfschmerzarten beispielsweise im Rahmen von Hirntumoren, Entzündungen oder posttraumatische Kopfschmerzen ausgeschlossen werden. Im Folgenden werden vier Kopfschmerzentitäten abgehandelt:
· Medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz
· Chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp
· Neu aufgetretener, persistierender Kopfschmerz
· Hemicrania continua
Im amerikanischen Schrifttum wird eine Variante des chronischen Kopfschmerzes als transformierte Migräne beschrieben (3). Diese Patienten hatten ursprünglich eine typische in Attacken auftretende Migräne und leiden dann später unter einem täglichen Kopfschmerz. Diese Patienten haben entweder in der Zwischenzeit einen medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz entwickelt oder leiden zusätzlich an einem chronischen Kopfschmerz vom Spannungstyp.
Medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz (4)
Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft ist dem medikamenten Dauerkopfschmerz in ihrer Kopfschmerzklassifikation nicht gerecht geworden. In der Zwischenzeit ist die folgende Definition konsensfähig:
1. Migräne, Spannungskopfschmerz oder posttraumatischer Kopfschmerz als primärer Kopfschmerz,
2. Täglicher oder fast täglicher Kopfschmerz,
3. Einnahme von Ergotamin, Dihydroergotamin, Triptanen, Analgetika, Coffein, Babituraten oder Codein als Monosubstanz oder in Kombination, täglich oder jeden zweiten Tag,
4. Nichtwirksamkeit einer medikamentösen oder nichtmedikamentösen Kopfschmerzprophylaxe,
5. Verschlechterung des Kopfschmerzes wenn die symptomatische Medikation beendet wird,
6. Nach Medikamentenentzug Besserung der Kopfschmerzen.
Daten zur Prävalenz und Inzidenz medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerzen sind nicht verfügbar. In den spezialisierten Kopfschmerzzentren liegt die Prävalenz bei 5% bis 10% der Patienten. In einer Metaanalyse, die 29 Studien mit insgesamt 2612 Patienten mit medikamenteninduziertem Dauerkopfschmerz umfaßte, zeigte sich, daß Frauen im Verhältnis von 3,5 : 1 überrepräsentiert sind (4). Patienten, bei denen ursprünglich eine Migräne bestand, beschreiben zum einen einen konstanten dumpf-drückenden, diffusen Kopfschmerz ohne autonome Beteiligung. Patienten, die im Rahmen des Abusus Ergotamin, Dihydroergotamin oder Triptane einnehmen, beschreiben in den frühen Morgenstunden einen migränetypischen, pulsierenden pochenden Schmerz, häufig kombiniert mit vegetativen Erscheinungen. Der Kopfschmerz bessert sich 30-120 Minuten nach der erneuten Einnahme eines Mutterkornalkaloids oder eines Triptans, wobei der dumpf-drückende Dauerkopfschmerz bestehen bleibt. Patienten mit chronischem Kopfschmerz vom Spannungstyp und posttraumatischem Kopfschmerz können nach klinischen Kriterien nicht zwischen dem ursprünglichen Kopfschmerz und dem medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz unterscheiden. Hier ergibt sich die Differenzierung erst nach einem Medikamentenentzug.
Ursprünglich war angenommen worden, daß nur die gehäufte Einnahme von Ergotamin zum medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz führt. In der Zwischenzeit ist allerdings belegt, das potentiell jeder Bestandteil von Schmerzmitteln und spezifischen Migränemitteln einschließlich Sumatriptan diese Art von Kopfschmerzen hervorrufen kann. Die klinische Beobachtungszeit für die Einnahme der neuen Triptane wie Zolmitriptan und Naratriptan ist noch zu kurz. Die Auswertung von Kopfschmerztagebüchern zeigte, das 95% der Patienten mehr als 1 Substanz mißbräuchlich einnehmen und daß die mittlere Zahl der täglich applizierten Tabletten oder Zäpfchen im Mittel bei 4,9 liegt (4). Die Patienten nehmen im Mittel zwischen 2,5 und 5,8 verschiedene pharmakologische Komponenten zu sich.
Klinische Beobachtungen zeigen, daß Patienten, bei denen ursprünglich eine Migräne oder Spannungskopfschmerz besteht ein höheres Risiko haben einen medikamentös bedingten Dauerkopfschmerz zu entwickeln. Dies könnte zum einen daran liegen, daß eine spezifische genetische Disposition besteht oder zum anderen an der Intensität der Schmerzen bei Migräneattacken im Vergleich zu anderen Schmerzen (z. B. Arthrose).
Die Therapie der Wahl ist der Medikamentenentzug. Leider gibt es bisher keine prospektiven randomisierten Studien, die über einen begrenzten Zeitraum Patienten mit fortgesetztem Medikamentenmißbrauch und solche mit Medikamentenentzug verglichen hätten. Die typischen Entzugserscheinungen nach der Beendigung der symptomatischen Medikation dauern im Schnitt 3,5 Tage und umfassen den Entzugskopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Blutdruckregulationsstörungen, Tachycardie, Schlafstörungen, Unruhe, Angst und Nervosität.
Langzeitkatamnesen zeigen, daß die Erfolgsquote nach 6 Monaten bei etwa 73% liegt und im Langzeitverlauf zwischen 60 und 70%. Als Erfolg ist hier definiert, wenn eine Reduktion der Kopfschmerztage um 50% und mehr/Monat erreicht wird.
Bei Patienten, bei denen die regelmäßige Medikamenteneinnahme weniger als 5 Jahre beträgt, die eine Monosubstanz einnehmen, bei denen keine psychische Comorbidität besteht und sich in fester partnerschaftlicher Beziehung befinden, kann ein ambulanter Medikamentenentzug durchgeführt werden. Sind bereits erfolglos ambulante Entzüge versucht worden, besteht ein zusätzlicher Mißbrauch mit Tranquillizern oder Anxiolytika, besteht eine Begleitdepression und ausgeprägte Angst vor den Entzugssymptomen, erfolgt der Entzug stationär. Als Überprückungsmedikation können nichtsteroidale Antirheumatika, die intravenöse Gabe von Acetylsalicylsäure und Antiemetika eingesetzt werden. Wenn die Schmerzen nicht durch Mutterkornalkaloide oder Triptane induziert waren und eine Migräne besteht kann für einen kurzen Zeitraum auch Dihydroergotamin s. c. gegeben werden. Schmerz- und Migränemittel werden abrupt abgesetzt. Barbiturate, Tranquillizer und Opioide müssen ausschleichend reduziert werden. Wichtig ist, bereits frühzeitig eine medikamentöse und nichtmedikamentöse Prophylaxe des ursprünglichen Kopfschmerzes, sei es Migräne oder Spannungskopfschmerz zu beginnen.
Chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp:
Nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft ist der chron. Spannungskopfschmerz von drückendem und dumpfem Charakter, mittelschwer in seiner Ausprägung, bilateral lokalisiert und wird kaum durch körperliche Anstrengung verstärkt. Leichte Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit können vorhanden sein. Diese Kriterien lassen sich allerdings nur auf 60-70% der betroffenen Patienten übertragen (5). Die übrigen berichten eine eindeutige Verstärkung durch körperliche Aktivität und beklagen ausgeprägte Licht- und Lärmempfindlichkeit. Die Inzidenz des chron. Spannungskopfschmerzes liegt zwischen 2 und 3%. Die Definition der IHS verlangt, daß an mindestens 15 Tagen des Monats der Kopfschmerz vorhanden sein muß. In der klinischen Realität klagen fast alle Patienten über einen täglichen Kopfschmerz. In den meisten Fällen bestand ursprünglich ein episodischer Kopfschmerz und im Laufe der Zeit nahm die Zahl der Kopfschmerztage zu. Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft unterscheidet einen Spannungskopfschmerz mit und ohne Beteiligung der pericraniellen Muskulatur. Nach meiner eigenen Erfahrung sind die Kriterien für die diagnostische Zuordnungen irrelevant. Fast alle Patienten haben zumindest einen erhöhten Tonus der Nackenmuskulatur. Etwa 30% der Patienten mit chron. Spannungskopfschmerz haben aufgepropft einen medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz. Hier kann der relative Anteil des ursprünglichen Kopfschmerzes und des medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes nur ermessen werden, nachdem ein Medikamentenentzug erfolgt ist. Nach unseren Erfahrungen verspürt etwa die Häfte der Patienten nach dem Medikamentenentzug eine signifikante Besserung der Kopfschmerzen. Im Gegensatz zur Migräne gibt es nur wenige gute kontrollierte Studien zur Prophylaxe des chron. Spannungskopfschmerzes.
Am besten untersucht ist die Gabe des trizyklischen Antidepressivum Amitriptylin in Dosen zwischen 25 und 100 mg/Tag. Die modernen selektiven 5-HT Wiederaufnahmehemmer sind nicht wirksam. Im Rahmen der Prophylaxe sollten auch nichtmedikamentöse Therapieverfahren insbesondere die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson zum Einsatz kommen.
Neu aufgetretener täglicher Kopfschmerz
Diese Kopfschmerzentität ist charakterisiert durch den abrupten Beginn eines Kopfschmerzes, der ab dann als Dauerkopfschmerz weiter besteht. Die Patienten hatten zuvor in aller Regel keine anderen Kopfschmerzen, insbesondere keine Migräne oder einen Spannungskopfschmerz. Bis heute ist nicht geklärt, ob es sich um den plötzlichen Beginn eines chron. Spannungskopfschmerzes handelt oder ob hier eine eigene Kopfschmerzentität vorliegt. Die betroffenen Patienten sind in der Regel deutlich jünger als Patienten mit chron. Spannungskopfschmerz (7). Eindrucksvoll ist die Tatsache, daß die meisten Patienten den genauen Zeitpunkt und die Umstände des Beginns der Kopfschmerzen wiedergeben können. Nach meiner eigenen Therapieerfahrung sprechen die Patienten am ehesten auf trizyklische Antidepressiva oder Sulpirid, einem atypischen Neuroleptikum an. Der therapeutische Effekt ist allerdings geringer als beim chron. Spannungskopfschmerz.
Hemicrania continua:
Hierbei handelt es sich um ein extrem seltenes Kopfschmerzsyndrom, bei dem permanent ein streng einseitiger Kopfschmerz mittlerer bis hoher Intensität besteht. Gelegentlich kommen auch migräneähnliche vegetative Erscheinungen wie Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Augentränen und Schwitzen hinzu. Nach Literaturangaben soll ein Teil der Patienten auf Indometacin ansprechen. Nach meinen eigenen Erfahrungen ist es nur bei der Hälfte der Patienten der Fall. Ein Teil der Patienten spricht auf die Gabe von retadierten Opioiden an.
Zusammenfassung:
Chronische, tägliche Kopfschmerzen, die nicht durch andere neurologische Krankheiten verursacht sind umfassen den medikamentösen Dauerkopfschmerz, den chron. Kopfschmerz vom Spannungstyp, den neu aufgetretenen persistierenden Kopfschmerz und die Hemicrania continua. Da die therapeutischen Strategien ganz unterschiedlich sind, ist es wichtig, diese Kopfschmerzarten zu differenzieren.
Literaturverzeichnis
- 1. Headache Classification Committee of the International Headache Society. Classification and diagnostic criteria for headache disorders, cranial neuralgias and facial pain. Cephalalgia 1988;8, Suppl.7:1-93
- 2.) Silberstein SD, Lipton RB. Chronic daily headache. In: Headache. Goadsby PJ Silberstein SD eds Boston: Butterworth-Heinemann 1997;201-225.
- 3.) Mathew NT, Stubits E, Nigam MR. Transformation of episodic migraine into daily headache. Analysis of factors. Headache 1982;22:66-68
- 4.) Diener HC, Tfelt-Hansen P. Headache associated with chronic use of substances. In: The headaches. Olesen J, Tfelt-Hansen P Welch KMA eds . Raven Press, New York 1993;721-727
- 5.) Pfaffenrath V, Isler H. Evaluation of the nosology of chronic tension-type headache. Cephalalgia 1993;13, Suppl. 12:60-62
- 6.) Schoenen J, Wang W. Tension-type headache. In: Headache. Goadsby PJ Silberstein SD eds Boston: Butterworth-Heinemann 1997;177-200
- 7.) Vanast PJ. New daily persistent headaches: definition of a benign syndrome [abstract]. Headache 1986;26:317
- 8.) Newman LC, Lipton RB, Solomon S. Hemicrania continua: 7 new cases and a literature review. Headache 1993;32:237-238