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Migräne, Pathophysiologie

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2. Migräne, Pathophysiologie

*** Afra J. Cortical excitability in migraine. J Headache Pain 2000;2:73-81

Zusammenfassung: Dr. Afra macht eine Übersicht des aktuellen Standes der Studienergebnisse hinsichtlich der kortikalen Erregbarkeit in der Migräne. Das Thema ist sicherlich sehr interessant, insbesondere in Hinblick auf die Pathophysiologie der Migräne-aura. Viele Arbeitsgruppen befassen sich weltweit mit dem Thema der kortikalen Erregbarkeit bei Migräne mittels biochemischer oder elektro-physiologischer Untersuchungs-methoden, die Ergebnisse der Studien sind jedoch ziemlich widersprüchlich. Der wichtigste Elektrolyt in der Hinsicht ist Magnesium. Mg ist wichtig für den Energietransport der Zelle sowie für die Stabilität der zellulären Membran und somit möglicherweise entscheidend für die kortikale Erregbarkeit. In vielen biochemischen Unter-suchungen konnte ein erniedrigter Mg-Spiegel im Serum sowie im Liquor nachgewiesen werden. In zwei Studien konnte dies jedoch nicht reproduziert werden. Mittels MR-Spektroskopie konnte vor kurzem ein erniedrigter Gehalt von Mg und organischem Phosphat im Gehirn nachgewiesen werden. In weiteren Studien zeigten sich im Serum und im Liquor erhöhte Konzentrationen von exzitatorischen Aminosäuren, Aspartat und Glutamat (auch hier konnten diese Ergebnisse jedoch nicht in allen weiteren Studien reproduziert werden). Insgesamt läßt sich jedoch aufgrund des erniedrigten Mg– und Phosphat Gehaltes und des erhöhten Spiegels der exzitatorischen Aminosäuren ein Konzept der erhöhten kortikalen Erregbarkeit aufbauen. Andere Gruppen versuchen dieses Problem mittels elektrophysiologischer Methoden (evozierte Potentialen und transkranielle Magnetstimulation) zu untersuchen.

Die Ergebnisse der Studien sind jedoch noch widersprüchlicher. Tatsächlich konnten in mehreren Studien bei Migränepatienten im Vergleich zur Normalpopulation erhöhte Amplituden der visuell evozierten Potentialen (der okzipitale Kortex erscheint hierbei natürlich besonders interessant) nachgewiesen werden. In anderen Studien wurde keine Differenz gefunden. Mittels weiterer Untersuchungsparadigmen mit repetitiven Stimuli, z.B. VEP, späte kortikale visuell- sowie akustisch evozierte Potentiale und kontingent negative Variation, zeigte sich eine fehlende kortikale Habituation, hinweisend auf eine erhöhte kortikale Erregbarkeit. Dies normalisierte sich nach der Gabe von Beta-blockern. Im Gegensatz dazu ergab sich in anderen Studien an Migränepatienten eher eine Erniedrigung der kortikalen Potentiale nach der visuellen oder akustischen Stimulation, was auf eine erniedrigte kortikale Erregbarkeit in der Migräne hinweisen könnte.

Kommentar: Mittels der transkraniellen Magnetsimulation untersuchten mehrere Arbeitsgruppen die Erregbarkeit des okzipitalen Kortex. Als Parameter hierzu diente die für die Phosphen-Auslösung nötige Stimulationsstärke. Aurora und Mitarbeiter fanden bei Migränepatienten eine erniedrigte Schwelle der Phosphenauslösung, was als eine erniedrigte Erregbarkeit der Sehrinde gedeutet wurde. Aggugia et al. konnten in einer ähnlichen Untersuchung keinen Unterschied feststellen. Im Gegenteil, Afra et al. fanden Hinweise auf eine erniedrigte kortikale Erregbarkeit. Summa summarum sind all die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig. Der Grund dafür könnten die methodologischen Unterschiede sein. Auch die Population der Migräne–Patienten ist sehr heterogen. Die aktuelle Übersicht ist aber auf jeden Fall lesenswert und verschafft einen guten und objektiven Überblick von einer Wissenschaftlerin, die sich bestens auf dem Gebiet auskennt. (ZK)

*** Judit Á, Sandor PS, Schoenen J. Habituation of visual and intensity dependence of auditory evoked cortical potentials tend to normalize just before and during the migraine attack. Cephalalgia 2000;20:714-719

Zusammenfassung: Judit Áfra et al. (nicht Á. Judit, wie fälschlicherweise angegeben) untersuchten an insgesamt 77 Migränepatienten Amplituden und Habituation bei Schachbrett-VEP und bei intensitätsabhängigem AEP (IDAP) kurz vor, während und 1 und 2 Tage nach einem Migräneanfall. Die Ergebnisse wurden verglichen mit einer großen Gruppe von Migränepatienten, bei denen die oben beschriebenen Maße mindestens drei Tage vor oder nach einem Anfall erhoben wurden (IDAP: n=7, VEP: n=37). Sowohl VEP-Habituation als auch intensitätsabhängige Reaktion normalisierten sich kurz vor und während dem Anfall und weisen auf einen Anstieg der kortikalen Prä-Aktivierung hin, die im Intervall bei Migränepatienten im Vergleich zu Gesunden (n=23) zu niedrig ist.

Kommentar: Mit dieser Studie konnte wieder unter Beweis gestellt werden, daß die Fähigkeit zur Habituation bei Migränepatienten generell verändert ist und in ihrem Ausmaß eng mit dem Auftreten eines Migräneanfalls zusammenhängt. Dies konnte früher schon sowohl für die contingent negative variation (CNV) als auch für VEP- bzw. AEP-Messungen gezeigt werden. Entscheidend neu ist jedoch, daß bereits am Tag vor dem Auftreten des Migräneanfalls, also noch in der schmerzfreien Phase und nicht während der Attacke, eine Normalisierung der VEP-Habituation einsetzt. Hierbei muß allerdings festgestellt werden, daß die untersuchten Patienten aus einer speziellen Kopfschmerzklinik stammten, was deren Verfügbarkeit im Vergleich zu ambulanten Untersuchungen deutlich erhöht und damit die Definition des Anfallsbeginns exakter wird. Dagegen warten ambulante Patienten mit der Untersuchung eher noch ab, insbesondere wenn der Anfall nachts beginnt. Die Frage nach dem Einsetzen der physiologischen Normalisierung wird von den Autoren sehr ausführlich diskutiert. So wird das Auftreten von Prodromi bzw. Vorboten des Anfalls für die Veränderung der Habituation verantwortlich gemacht – zumindest legen die Befunde dies nahe. Damit setzt die funktionell messbare Normalisierung bereits vor dem Auftreten klinischer Symptome, einschließlich des eigentlichen Kopfschmerzes ein. Die Autoren machen dafür einen Anstieg in der zentralen Serotonin-Aktivität verantwortlich. Die Studie ist insgesamt gut geplant und dargestellt, es werden aber unterschiedliche Gruppen zwischen den einzelnen Beobachtungen analysiert; eine Messwiederholungsreihe wäre natürlich eleganter gewesen. Die Autoren diskutieren dies jedoch und weisen auf die spezifischen Schwierigkeiten bei Längsschnittstudien hin. Es wäre auch noch interessant gewesen zu erfahren, ob VEP und IDAP immer in derselben Reihenfolge abgeleitet wurden oder randomisiert – hier sind ja auch intermodale Habituationseffekte denkbar, die durch eine randomisierte Reihung ausgeglichen werden könnten. (PK)

**Crotogino J, Feindel A, Wilkinson F. Perceived scintillation rate of migraine aura. Headache 2001;41:40-48.

Zusammenfassung: In dieser Studie aus dem Department of Psychology, Montreal, untersuchen die Autoren, mittels einer psychophysischen Methode die Frequenz der Szintillationen während einer visuellen Migräne-Aura. Die Probanden waren aufgefordert, während zweier Zeitpunkte innerhalb der visuellen Aura die Frequenz ihrer subjektiven Flicker-Phosphene durch die Einstellung der Flickerrate einer externen Leuchtdiode anzugeben (Methode der subjektiven Gleichheit). Bei 4 Kontrollpersonen wurde die Methodik vorher validiert und nachgewiesen, daß die so angegebene subjektiv wahrgenommene Flickerfrequenz mit der tatsächlichen linear korrespondiert. Insgesamt nahmen 11 Personen mit einer Migräne mit visueller Aura an der Studie teil, es wurden Daten aus 36 visuellen Auren aufgezeichnet.

Wesentliches Ergebnis der Studie ist, daß die mittlere Flicker-Frequenz mit 17,8 Hz (Range 33-41,l7 Hz) höher liegt, als vorher allgemein angenommen. Es fanden sich keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Form der visuellen Aura, dem Zeitpunkt der Messung innerhalb der Aura und Art der Aura. Ebenso fand sich kein sicherer Einfluß der Bewegungsrichtung der Szintillationsphosphene (von peripher nach foveal oder von foveal nach peripher). Die Variabilität der mittleren Flicker-Frequenz zwischen den einzelnen Versuchspersonen war sehr ausgeprägt, innerhalb einer einzelnen Versuchsperson und verschiedenen Aura-Attacken dagegen relativ klein. Die Autoren diskutieren die Ergebnisse vor dem Hintergrund der bisher angenommenen physiologischen Modelle für den Ort der Entstehung der visuellen Aura. Einerseits beschreibt das sog. labled-lines-Modell eine Aktivierung frequenzabhängiger Kanäle (magnozelluläre gegenüber parvozelluläre Verarbeitung visueller Information). Die Autoren halten dieses Modell für weniger wahrscheinlich, da während einer Aura, die in der Peripherie wahrgenommenen Flickerphosphene eine höhere relative Flicker-Rate haben, als wenn am gleichen Ort ein externer Flicker-Reiz wahrgenommen wird. Die konkurrierende Erklärung ist das sog. Oszillationsmodell, hier wird angenommen, daß lokale neuronale Gruppen oszillieren und diese Oszillation durch lokale Feedback-Inhibition moduliert wird. Letztlich kann aber auf dem Boden des heutigen Wissens nicht entschieden werden, welches beider Modelle nun zutrifft.

Kommentar: Diese Studie untersucht mit einem sauberen Protokoll und Methodik die subjektive Frequenz der Szintillation bei visueller Aura. Einschränkend muss gesagt werden, daß eine grössere Studiengruppe und die Aufzeichnung von mehreren Auren pro beteiligten Probanden wünschenswert wäre, da so bei insgesamt 5 von11 Probanden nur eine Aura registriert wurde und so die Aussage, daß es intra-individuell zu einer nur relativ geringen Variabilität der Aura-Flicker-Frequenz kommt, letztlich nur auf die Beobachtung von insgesamt 4 Patienten mit mehr als 2 registrierten Auren beruht. Die Annahme der Autoren, daß das oszillatorische Modell eher zutrifft als das sog. labled-lines-Modell entspricht auch der Meinung des Kommentators. Das wichtigste Argument ist, daß es sehr wohl zum Teil in den Auren zu einer Farbwahrnehmung kommt, welche mit einer exklusiven Aktivierung des magnozellulären neuronalen Systems nicht zu erklären ist. Darüber hinaus korrespondiert die Beobachtung bei Versuchstieren mit einer lokalen Übererregbarkeit und benachbarten Untererregbarkeit besser mit der Vorstellung einer lokalen Oszillation von Neuronenverbänden aufgrund von rekurrenter Aktivierung und Inhibition. Insgesamt ergibt sich aus dieser Studie kein wesentlicher Wissenszuwachs, der für das diagnostische, therapeutische, bzw. pathophysiologische Verständnis wesentlich wäre. (AS)

***** Burstein R. Deconstructing migraine headache into peripheral and central sensitisation. Pain 2001;89:107-110

Zusammenfassung: Dieser generelle Überblick von Rami Burstein referiert die eine von drei grundsätzlichen Hypothesen zur Migräne-Attacke: Die Aktivierung peripherer sensorischer fasern, die intrakranielle Blutgefässe und die Dura innervieren. (Hingegen wird die Hypothese der Aktivierung deszendierender Bahnen, die die Weiterleitung von Schmerzimpulsen auf spinaler Ebene fazilitieren und die Möglichkeit der Suppression deszendierender Bahnen, die diese Signalweiterleitung inhibieren, nicht untersucht, da es dafür keine wissenschaftlichen Daten gibt). Ausgehend von einer Reihe tierexperimenteller Daten, die den Modalitätenwechsel von Schmerz zu anderen Qualitäten belegen, wird die aus der Bursteinschen Arbeitsgruppe vorangegangene, weit beachtete Arbeit zur Allodynie beim Menschen referiert. 79% der untersuchten Patienten hatten während der Migräneattacke eine Allodynie, 21% nicht, wobei ältere und seit längerem erkrankte Patienten eher betroffen waren. Nach der Untersuchung von zeitlichen und räumlichen Aspekten der Allodynie hypothetisiert Burstein, daß zunächst die peripheren Rezeptoren sensitiert werden, daß anschließend Neurone zweiter Ordnung ebenfalls sensitiert werden und die kutane Allodynie vermitteln und daß anschließend Neurone dritter Ordnung sensitiert werden, die beispielsweise für die Allodynie des ipsilateralen Vorderarmes verantwortlich sind. Burstein spekuliert schließlich, daß die gefundene Korrelation von Alter und Häufigkeit der Allodynie entweder auf das Alter selbst oder auf eine zentrale Sensitisierung im Sinne einer kumulativen Erfahrung von Migräneattacken zurückzuführen ist, ohne für die Alternativen eine Lösung anbieten zu können.

Kommentar: Der provokante Titel hält nicht ganz, was er verspricht. Zwar mögen die peripheren Mechanismen, über die Burstein referiert, bei der Chronifizierung von Migräne eine Rolle spielen, doch bleiben kleine Mängel im ersten und letzten Ansatz: Der erste Ansatz war die Frage nach der Initiierung der Migräne-Attacke, der durch die vorgestellten Untersuchungen natürlich nicht gelöst wird und weiterhin eines der bedeutenden Rätsel in der Migräneforschung bleibt. Der letzte Ansatz fragt tatsächlich nach der Chronifizierung, die eben höchstwahrscheinlich zentral abläuft und wo die gestellten Fragestellungen am Menschen möglicherweise mit moderner Bildgebung geklärt werden können. Das Feld dazwischen, also von der beginnenden Migräne-Attacke bis zur entfernten Allodynie, wird jedoch auf überlegene Weise abgesteckt. (GA)


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