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Kopfschmerz-News 3/1999 Migräne, Pathophysiologie – DMKG

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04. Migräne, Pathophysiologie, Tierexperimente

***** Goadsby PJ, Hoskin KL (1998). Serotonin inhibits trigeminal nucleus activity evoked by craniovascular simulation through a 5HT1B/1D-receptor: a central action in migraine? Ann Neurol 43:711-718

Die Arbeitsgruppe von Peter Goadsby war eine ersten, die nachgewiesen hat, daß die neuen Triptane einen zentralen Angriffspunkt an Neuronen des Nucleus caudalis des N. trigeminus haben. Sie wirken dort ganz überwiegend über 5HT1D-Rezeptoren. Der Autor untersuchte jetzt die Frage, ob physiologisches vorkommendes Serotonin eine ähnliche Wirkung hat.

Zu diesem Zweck wurden Katzen anästhesiert und der Sinus sagittalis superior freipräpariert. Er wurde dann elektrisch stimuliert, und es wurden Neurone im trigemino-cervicalen Komplex des Nucleus caudalis des N. trigeminus neurophysiologisch abgeleitet. Zunächst wurde die Spontanaktivität gemessen. Anschließend wurden 15 µg/kg Serotonin pro Minute über 5 min infundiert. Das Experiment wurde in Anwesenheit eines spezifischen 5HT1B/1D-Antagonisten (GR127935) wiederholt. Die Entladungsrate der Zellen bei Stimulation des Sinus sagittalis superior betrug 0,61 + 0,1 mit einer Latenz von 11,1 msec. Serotonin hemmte die trigeminale Aktivität mit einer Latenz von etwa 15 – 20 min nach Beginn der Infusion. Diese Inhibition hielt etwa 20 Minuten an. Dann kehrte die Aktivität zur Ausgangslage zurück. Wurde Serotonin zusammen mit dem 5HT1B/1D-Antagonisten GR127935 gegeben, änderte sich nichts an der Entladungsrate der trigeminalen Neurone.

Diese Studie legt sehr elegant nahe, daß auch physiologisch vorkommendes Serotonin am Nucleus caudalis eine physiologische, in diesem Fall schmerzhemmende Wirkung hat. Nach Ansicht der Autoren sollte daher der Schmerz bei der Migräne nicht als vaskulärer Kopfschmerz sondern als “neurovaskulärer Kopfschmerz” bezeichnet werden. Die Studie ist auch in guter Übereinstimmung mit Beobachtungen an Menschen, wo die intravenöse Gabe von Serotonin ebenfalls Migränekopfschmerzen lindert. Serotonin kann allerdings nicht zur Therapie eingesetzt werden, da es bei systemischer Gabe eine Vielzahl von Nebenwirkungen hat. (HCD)

***** Bednarczyk EM, Remler B, Weikart C, Nelson AD, Reed RC (1998). Global cerebral lood flow, blood volume, and oxygen metabolism in patients with migraine headache. Neurology 50: 1736-1740.

Es gibt eine Vielzahl von Messungen zum Blutfluß während Migräneattacken mit alten Methoden wie der Xenon-Injektionsmethode und Untersuchungsmethoden, wie die Single-Photonen-Emissions-computertomographie (SPECT) benutzen. All diese Verfahren haben den Nachteil, daß sie nur qualitativ und nicht quantitativ sind. Die amerikanische Arbeitsgruppe benutzte nun die Positronen-Emissionstomographie, um bei neun Patienten mit einer Migräne ohne Aura cerebralen Blutfluß, cerebrales Blutvolumen, den Sauerstoffmetabolismus und die Sauerstoffextraktionsrate mit radioaktiv markiertem Wasser und radioaktiv markierten Sauerstoff zu untersuchen.

Die Daten, die während einer spontanen Migräneattacke erfaßt wurden, wurden verglichen mit einer zweiten Messung, in der die Patienten kopfschmerzfrei waren. Der globale cerebrale Blutfluß betrug während der Migräneattacke im Mittel 52,7 ml/min/100 g Hirngewebe im Vergleich zu 59,65 ml/min/100 g im beschwerdefreien Intervall. Der Unterschied war signifikant. Auch das cerebrale Blutvolumen war etwas geringer während der Attacke im Vergleich zum kopfschmerzfreien Intervall. Der Sauerstoffmetabolismus und die Sauerstoffextraktionsrate waren innerhalb und außerhalb der Migräneattacke nicht unterschiedlich. Die Autoren diskutieren ihre Ergebnisse im Zusammenhang mit einer möglichen spreading depression, die zu einer Verminderung des cerebralen Blutflusses führen würde. Hinderlich an dieser Erklärung ist aber die Tatsache, daß keiner der hier untersuchten Patienten unter Aurasymptomen litt. Die Autoren unterließen es auch, regionalen cerebralen Blutfluß in bestimmten Regionen wie beispielsweise dem occipitalen Cortex oder dem Hirnstamm und Mittelhirn zu messen, so daß sie nicht in der Lage waren, die Ergebnisse anderer Arbeitsgruppen zu reproduzieren. Weiterhin fällt die große Variationsbreite der Messungen bei einzelnen Migränepatienten auf.

Da die Unterschiede in absoluten Werten relativ gering sind, kann wie bei älteren Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Olesen davon ausgegangen werden, daß es bei der Migräne ohne Aura zumindest nicht zu dramatischen Änderungen des cerebralen Blutflusses kommt. (HCD)

**** Pt·cek LJ (1998). The place of migraine as a channelopathy. Current Opinion in Neurology 11: 217-226.

Die Entdeckung eines Gendefekts auf dem Chromosom 19, das einen P/Q-Calciumkanal codiert und bei etwa 50% aller Familien mit familiär hemiplegischer Migräne exprimiert wird, legte nahe, daß es sich zumindest bei dieser Form der Migräne um eine sog. Kanalkrankheit, also eine Funktionsstörung des Ionenkanals handeln könnte.

Der Autor diskutiert daher die familiär hemiplegische Migräne im Zusammenhang mit anderen bereits bekannten Kanalkrankheiten wie der hyperkaliämischen periodischen Lähmung und der Paramyotonie congenita, bei denen es sich um Natriumkanalstörungen handelt. Bei der hypokaliämischen periodischen Lähmung wurde ein defekter Calciumkanal beschrieben. Die Thomsonísche und Beckerísche Form der Myotonie beruht wahrscheinlich auf einem defekten Chloridkanal. Andere Krankheiten mit Kanaldefekten sind die episodische Ataxie und das Syndrom der verlängerten QT-Zeit im EKG. Es gibt eine Reihe von anderen intermittierenden Erkrankungen, bei denen Kanaldefekte sehr wahrscheinlich sind. So beispielsweise die benignen familiären Neugeborenen-Krämpfe, die Startle-Erkrankung, die kongenitalen Myasthenien, die autosomal dominante nächtliche Frontallappen-Epilepsie und familiäre paroxysmale Dyskinesien.

Der Autor stellt am Ende seiner Ausführungen eine Theorie vor, wie eine Störung eines Ionenkanals zumindest intermittierend die Membranempfindlichkeit so verändern kann, daß die beschriebenen neurologischen Ausfälle erklärt werden könnten. (HCD)

** Gardiner IM, Ahmed F, Steiner TJ, McBain A, Kennard C, de Bellereoche J (1998). A study of adaptive responses in cell signaling in migraine and cluster headache: correlations between headache type and changes in gene expression. Cephalalgia 18: 192-196.

Noch weitgehend ungeklärt ist, wie verschiedene Triggermechanismen einen Migräneanfall oder eine Clusterkopfschmerzattacke auslösen können. Die hier vorgelegte Studie untersucht in diesem Zusammenhang einen der grundlegendsten Vorgänge, nämlich die Signaltransduktion der einzelnen Zellen. Darunter versteht man die initialen intrazellulären biochemischen Reaktionen auf einen externen Reiz an einem Zellrezeptor.

Eine dieser Reaktionen ist die Induktion von G-Proteinen und dadurch sekundär von verschiedenen anderen Proteinen. Eine G-Protein abhängige Signaltransduktion wird u.a. durch bestimmte Hormone, Neurotransmitter und Wachstumsfaktoren ausgelöst. Interessanterweise ist u.a. die Modulation der Calcium- und Kaliumkanäle verbunden mit der G-Protein abhängigen Signaltransduktion, was von besonderer Bedeutung vor dem Hintergrund der jüngsten genetischen Forschungen zur Migräne ist. Die englische Autorengruppe der hier referierten Studie hat konkret die Expression von drei verschiedenen G-Proteinen in Lymphozyten von Migränepatienten und Clusterkopfschmerzpatienten untersucht. Dazu ist die mRNA mit Hilfe von verschiedenen blot-Verfahren quantitativ bestimmt worden. Bei Migränepatienten fand sich eine signifikante Reduzierung der mRNA des Gi-Proteins, das die Adenylcyclase inhibiert.

Bei Clusterkopfschmerzpatienten fand sich, wenn auch weniger deutlich, ebenfalls diese Reduzierung, zusätzlich war das Gs-Protein signifikant niedriger im Vergleich zu Migränepatienten. Leider weist jedoch die statistische Auswertung dieser vom Ansatz her sehr interessanten Studie erhebliche Mängel auf, so daß die Ergebnisse nur sehr eingeschränkt verwertbar sind. So werden die arithmetischen Mittelwerte von mehreren Gruppen, die z.T. nur aus 3 Probanden bestehen, gleichzeitig miteinander lediglich im Mann-Whitney-Test verglichen. Eine Kruskal-Wallis-Analyse oder eine Korrektur für multiple Paarvergleiche findet nicht statt. Auch sind die einzelnen Kopfschmerzgruppen nicht exakt definiert. So werden in der Gruppe der Clusterkopfschmerzpatienten ohne Medikamente, die ohnehin nur aus 6 Patienten besteht, sowohl Patienten innerhalb als auch außerhalb der Clusterperiode subsummiert.

Zusammenfassend gibt diese Studie Hinweise, daß die Signaltransduktion möglicherweise an der Pathophysiologie primärer Kopfschmerzsyndrome beteiligt ist. Dies muß jedoch an größeren Studien mit einer exakteren Patientendefinition weiter untersucht werden. (SE)

****Terwindt GM, Ophoff RA, Haan J, Vergouwe MN, van Eijk R, Frants RR, Ferrari MD (1998). Variable clinical expression of mutations in the P/Q-type calcium channel gene in familial hemiplegic migraine. Neurology 50: 1105-1110.

Die Familiäre Hemiplegische Migräne (FHM) ist eine autosomal-dominante Erkrankung, für die als erste Migräneform ein Gen sequenziert werden konnte. Die Entdeckung zweier weiterer Genloci und Hinweise auf mindestens noch einen weiteren belegen jedoch, daß es sich um eine heterogene Erkrankung handelt. Außerdem ist aufgrund der bisherigen Linkageanalysen zur FHM vermutet worden, daß sich Genotyp und Phänotyp nicht in allen Fällen entsprechen und daß auch Phänokopien vorkommen. Einer holländischen Arbeitsgruppe war vor zwei Jahren die Sequenzierung dieses ersten FHM-Gens, das einen spannungsabhängigen P/Q-Calciumkanal kodiert, auf Chromosom 19p13 und der Nachweis von vier verschiedenen mit der FHM assoziierten Mutationen in diesem Gen gelungen. Sie legt in dieser Studie ihre Untersuchungen über die klinische Expression von zweien dieser vier verschiedenen Mutationen vor.

Dabei handelt es sich um sogenannte missense-Mutationen, bei denen eine Aminosäure des kodierten Proteins durch eine andere ersetzt wird. In diesem Gen kann es auch zu Abbruchmutationen und zu Triplet-Verlängerungen kommen, welche mit der episodischen Ataxie Typ 2 bzw. zur spinocerebellären Ataxie Typ 6 assoziiert sind. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist, daß es für beide Mutationen Phänokopien in zwei der drei untersuchten Familien gibt, d.h. Patienten mit FHM, die keine Veränderung in ihrem Gen aufweisen. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, daß es auch Familienmitglieder ohne hemiplegische Aura, aber mit typischer Migräne gibt, die eine der beiden Mutationen aufweisen. Dies wird von den Autoren als ein Beleg dafür interpretiert, daß die FHM ein Teil des Spektrums der Migräne ist. Insgesamt kommen alle denkbaren Kombinationen einer Phänotyp-Genotyp-Beziehung vor.

Diese Studie stellt eine sehr wichtige und ausgezeichnet dargestellte Analyse von Mutationen bei FHM vor, ist aber aufgrund ihrer hohen Spezialisierung wohl nicht von allgemeinem Interesse. Leider bestätigt sie die jüngsten Vermutungen, daß die genetischen Entdeckungen bei der Migräne eher mehr und neue Fragen aufwerfen, als daß sie Fragen zur Pathophysiologie oder Klassifikation der Migräne endgültig beantworten. (SE)


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