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Kopfschmerz-News März 1997

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I. Migräne Klinik

1.**** Nyholt DR, Curtain RP, Gaffney PT, Brimage P, Goadsby PJ, Griffiths LR (1996). Migraine association and linkage analyses of the human 5-hydroxytryptamine (5HT2A) receptor gene. Cephalalgia 16: 463-467.

Die Zusammenhänge zwischen Serotoninstoffwechsel und Migräne sind seit über 20 Jahren ein Schwerpunkt der Migräne-forschung. So liegt es nahe, in der aufkommenden molekularbiologischen Forschung über Migräne die Serotoninrezeptorgene zu untersuchen. Die australische Arbeitsgruppe hat dafür den Serotonin-2A-Rezeptor gewählt und sowohl eine Linkageanalyse als auch eine Analyse der Allelenfrequenz des bekannten Rezeptorpolymorphismus MspI und des Mikrosatellitenmarkers D13S126 durchgeführt. Die Allelenfrequenz des Polymorphismus MspI unterschied sich nicht zwischen 96 Migränepatienten und 91 gesunden Kontrollprobanden, auch die Allelenfrequenz des Markers D13S126 zeigte keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen. In drei Familien wurde dann eine Linkageanalyse sowohl für den Polymorphismus MspI als auch für den Marker D13S126 durchgeführt. Leider waren die Familien für den Polymorphismus MspI zu wenig informativ, so daß die Lod-Scores nur Werte um 0 erreichen und keine endgültige Aussage zulassen. Für den Marker D13S126 konnte jedoch ein ausreichend informativer negativer Lod-Score von -2,81 gefunden werden, so daß mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Zusammenhang zwischen Migräne und genetisch bedingten Veränderungen des Serotoninrezeptors 2A besteht. Diese Studie bestätigt Ergebnisse einer amerikanischen Arbeitsgruppe, die ebenfalls den Serotoninrezeptor 2A (und auch 2C) mittels Linkage-Analyse aus schließen konnte. Somit scheinen genetische Varianten der hier untersuchten Serotoninrezeptoren keine Rolle in der Pathophysiologie der Migräne zu spielen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß andere Proteine des Serotoninstoff wechsels in die genetische Determination der Migräne involviert sind. (SE)

2. **** Russell MB, Olesen J (1996). Migrainous disorder and its relation to migraine without and migraine with aura. A genetic epidemiological study. Cephalalgia 16: 431-435.

Unter “migräneartigen Störungen” versteht die IHS-Klassifikation Kopfschmerzen, die alle Kriterien der Migräne bis auf eines erfüllen. Sie sind bisher nur wenig untersucht worden und die bisherigen epidemiologischen und klinischen Daten reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob es ich um eine eigenständige Entität handelt. Die Studie der dänischen Arbeitsgruppe stützt sich auf eine Befragung von 4000 Einwohnern und ermittelt dabei eine Lebenszeitprävalenz (bis zum 40. Lebensjahr) der migräneartigen Störungen von 2,5%. Dies ist im Vergleich zu anderen Studien aus Frankreich und Deutschland mit Raten von 10% bzw. 16% erstaunlich gering. Die Personen mit migräneartigen Störungen sind dann einer genetisch-epidemio-logischen und symptomatologischen Analyse unterzogen worden. Wesentliche Ergebnisse sind, daß das Geschlechtsverhältnis nahezu ausgeglichen ist, daß Frauen einen deutlich späteren Lebenszeitbeginn dieser Störungen haben und daß vegetative Begleitsymptome seltener ausgeprägt sind. Das familiäre Risiko für Migräne ohne Aura von Verwandten 1. Grades ist bei den migräneartigen Störungen ohne Aura leicht erhöht, das familiäre Risiko für Migräne mit Aura ist bei den migräneartigen Störungen mit Aura nicht erhöht. Die Autoren schließen daraus, daß migräneartige Störungen ohne Aura wenigstens zum Teil als eine Unterform der Migräne mit Aura zu verstehen sind. Die migräneartigen Störungen mit Aura werden als unabhängig von der Migräne mit Aura aufgefaßt. Kritisch anzumerken ist dabei, daß die Zahl der Betroffenen in dieser Studie absolut und relativ sehr gering ist, so daß die statistischen Auswertungen nur vorläufige Schlußfolgerungen zulassen. (SE)

3. ** Breslau N, Chilcoat HD, Andreski P. (1996) Further evidence on the link between migraine and neuroticism. Neurology 47: 663-667.

Diese amerikanische Studie ist in einem Bereich der Migräne-Grundlagenforschung angesiedelt, der bemüht ist, ätiologische Annahmen einer prämorbiden Persönlichkeitsdisposition bei der Erkrankung zu belegen. Anhand eines prospektiven Designs wurde untersucht, inwiefern hohe prämorbide Neurotizismus-Scores ein erhöhtes Risiko darstellen, innerhalb eines Zeitraums von 5 Jahren an Migräne zu erkranken. In einem Eingangsinterview wurde 972 Probanden im Alter von 21 bis 30 Jahre (62 % Frauen), die aus einer Liste einer Organisation zur Erhaltung der Gesundheit rekrutiert wurden, die Neurotizismus-Subskala des Eysenck Personality Questionnaire’ (EPQ) vorgelegt. Nach 5 Jahren wurde gemäß der IHS-Symptomkriterien die Migräne-Inzidenz bestimmt. 848 vollständige Datensätze gingen in die Auswertung ein: Bei 60 Frauen und 11 Männern wurde in dem vorgesehenen Zeitraum eine Erstmanifestation beobachtet. Nachfolgend wurden nur die Daten der weiblichen Probanden für die Ergebnisse herangezogen: Deren EPQ-Scoring wurde in Neurotizismus-Quartile eingeteilt und zur Migräne-Inzidenz in Beziehung gesetzt. Es zeigte sich, daß mit einer höheren Quartileinstufung auch ein höheres Migränerisiko einherging, wobei die obere Gruppe gegenüber der unteren Gruppe ein 4-faches Risiko aufwies. Nach Ausschluß der Probanden, die zum Baseline-Zeitpunkt eine komorbid vorhandene Major Depression oder Angststörung gemäß DSM-IIIR-Kriterien aufwiesen, war nur noch ein 2,9-faches Risiko zu beobachten.

Das Besondere der Studie besteht sicherlich darin, durch den prospektiven Ansatz die epidemiologisch häufig gefundene Verbindung von Neurotizismus und Migräne der Kritik zu entziehen, daß neurotische Ausprägungen eine psychische Folge der Migräne-Erkrankung darstellen. Dennoch weist die Arbeit erhebliche methodische Mängel auf: Für die Migräne-Inzidenz mußte im Minimalfall lediglich ein Anfall von 4 Stunden Dauer nach retrospektiv-subjektiven Angaben der Patienten vorliegen. Es wurden keine weiteren Kriterien (z.B. ärztl. Diagnosen) herangezogen. Des weiteren wurde keine Differenzierung von Migräne, Spannungs- oder Kombinationskopfschmerz vorgenommen, obwohl faktorenanalytische Untersuchungen zeigen, daß nur ein kleiner Teil der Varianz der Kopfschmerzsymptomatik durch einen Migräne-Faktor’ aufgeklärt wird. Somit sind die Ergebnisse allenfalls kopfschmerzspezifisch, nicht migränespezifisch. Reliabilität und Validität der Studie sind durch diese Beschränkungen entscheidend geschwächt. Alle Probanden entstammen einer Population (s.o.), die sich mit Krankheit und Gesundheit auseinandersetzt (Selektionsbias). Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß gerade diese Stichprobe eine besonders hohe Variablenausprägung besitzt. Die neurotische Ausprägung und ihre Aufteilung in Quartile wurde ausschließlich mit einer Subskala von nur 12 Items eines Inventars (EPQ) erfaßt, dessen Konstrukt (Neurotizismus) zudem schon in den 60er Jahren entwickelt wurde. Bei genauerer Betrachtung der entsprechenden Items fällt auf, daß diese die Aspekte emotionale Labilität’ und Streßvulnerabilität’ erfassen. Somit liegt nahe, daß mit Neurotizismus’ die Wechselwirkung von dysfunktionalen habituellen Copingstrategien in belastenden Alltagssituationen mit einem instabilen vegetativen Nervensystem erfaßt wird, dessen ätiologischer Beitrag zur Ausbildung der Migräne unumstritten ist. Folglich kann diese Studie nicht den Anspruch erheben, eine kausale Beziehung zwischen Neurotizismus und Migräne aufzuzeigen. Fehlerhafte Repräsentativität, ungenügende Diagnosekriterien und fehlende Kontrollgruppenvergleiche machen eine Bewertung der Migräne-Spezifität der hier untersuchten Persönlichkeitsvariable unmöglich. Den Test der Empirie hat die Schmerzpersönlichkeit bislang noch nicht bestanden. (GF)

4. * Blier P, Bergeron R (1995) The concomitant use of sumatriptan and antidepressant treatments. Journal of Clinical Psychopharmacology 15(2):106-109.

Aufgrund der hohen Prävalenz von Migräne und depressiven Erkrankungen besteht berechtigtes Interesse an Untersuchungen zur Arzneimittelinteraktionen zwischen Medikamenten zur Attackentherapie der Migräne und Antidepressiva. In der vorliegenden Studie wird über den Einsatz von Sumatriptan (100 mg, p.o.) während 103 Migräneattacken bei 14 Patienten berichtet, die gleichzeitig eine antidepressive Medikation mit einer der folgenden Substanzen erhielten: den selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRIs) Fluoxetin, Fluvoxamin, Setraline, dem MAO-A-selektiven Inhibitor Moclobemid, dem 5-HT1A-Agonisten Buspiron oder Lithium. Da bei den Patienten keine unerwünschten Arzneimittelwirkungen beobachtet wurden, folgern die Autoren, daß der Einsatz von Sumatriptan in Komedikation mit den genannten Antidepressiva vertretbar ist. Die Studie weist erhebliche methodische Mängel auf und sollte nicht dazu verleiten, sich über die Warnungen des Herstellers über Gegenanzeigen und mögliche Arzneimittelwechselwirkungen hinwegzusetzen. Bei einer Patientenzahl von n=14 und 6 Substanzen handelt es sich bei der Untersuchung sicher nicht um eine Arzneimittelsicherheitsstudie sondern um Kasuistiken. Nur bei 5 Patienten wurden Vitalparameter vor und nach Gabe von Sumatriptan erhoben und dokumentiert.

In der Diskussion wird allerdings nachvollziehbar dargelegt, warum Sumatriptan – selbst wenn es im Rahmen einer Migräneattacke zentral verfügbar wäre – in Kombination mit anderen Serotoninagonisten oder SSRIs nicht zu einem 5-HT-Syndrom führen würde, da es als 5-HT1D-Agonist über Autorezeptoren die präsynaptische Auschüttung von 5-HT im Gehirn reduziert. Auch erscheint die Argumentation der Autoren richtig, daß der Einsatz der Migränemittel Ergotamin und Dihydroergotamin aufgrund ihrer geringen 5-HT1D-Selektivität und zahlreichen weiteren Rezeptorinteraktionen in Verbindung mit den o.g. Serotoninagonisten oder 5-HT-Reuptake-Inhibitoren potentiell zu gefährlichen zentralen Interaktionen führen kann.

Während aus den klinischen Untersuchungen über den Effekt von Sumatriptan bei Clusterkopfschmerzen keine negativen Wechselwirkungen mit Lithium als medikamentöse Prophylaxe bekannt sind, stehen prospektive Arzneimittelsicherheitsstudien über die Kombination von Sumatriptan mit SSRIs und selektiven MAO-Is bisher aus und können durch Kasuistiken nicht ersetzt werden. (HK).


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