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Kopfschmerz-News

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2. Migräne, Pathophysiologie

** Matharu MS, Good CD, May A, Bahra A, Goadsby PJ. No change in the structure of the brain in migraine: a voxelbased morphometric study. Europ J Neur 2003;10:53-57

Zusammenfassung:

Matharu und Mitarbeiter haben bei 28 Migränepatienten (11 mit Aura, 17 ohne Aura) im Vergleich zu 17 gesunden Kontrollpersonen mit der voxelbasierten Morphometrie (VBM) in der Kernspintomographie in keiner Hirnregion einen Unterschied zu gesunden Kontrollpersonen gefunden.

Kommentar:

Eine Arbeit mit negativem Ergebnis zu kommentieren ist immer schwierig. Auf der einen Seite ist es beruhigend, dass Migränepatienten -wie nicht anders zu erwarten- keine strukturellen Veränderungen im gesamten Gehirn zu haben scheinen. Dies unterstützt zwanglos die Hypothese, daß es sich um eine biochemischfunktionelle Erkrankung handelt. Der ausführliche Methoden-Statistik-Teil befasst sich zwar mit dem Problem der multiplen Untersuchungen, nimmt jedoch keinen Bezug auf die Gruppengröße. Das ist auch deshalb nicht möglich, weil – abgesehen vom Cluster-Kopfschmerz und dem SUNCT-Syndrom- keine Vorerfahrungen vorzuliegen scheinen, in welchem Maße das Volumen bestimmter Hirnregionen sich ändert. Zur Problematik sei erwähnt, daß – bei einer Gruppengröße von 10 – in der rezenten Arbeit von Kassubek (Neurosci Lett 2002;323:29-32) bei einer so eindeutig neurodegenerativen Erkrankung wie dem M. Parkinson mit histopathologisch gesichertem Zellverlust im Bereich des Mittelhirns dort keine Veränderungen in der VBM gefunden wurden, auch nicht im Bereich des Nucleus subthalamicus, lediglich im Bereich des Thalamus. Bei allen Einschränkungen muß nach der vorliegenden Arbeit der pathophysiologische Pathomechanismus in der Migräne weiterhin in biochemischen bzw. mikrostrukturellen Veränderungen gesucht werden. (GA)

**** Kruuse C, Thomsen LL, Birk S, Olesen J. Migraine can be induced by sildenafil without changes in middle cerebral artery diameter. Brain 2003; 126: 241-247

Zusammenfassung:

Die Autoren aus der Kopenhagener Gruppe haben in dieser Arbeit die Hypothese untersucht, ob der für Sildenafil vermutete Wirkmechanismus, nämlich der Anstieg des intrazellulären zyklischen Guanosin-Monophosphat (cGMP), entscheidend ist für die Auslösung von Migräne-Attacken und ob dabei die Dilatation der A. cerebri media eine entscheidende Rolle spielt.

Für diese Untersuchung wurden 12 Migräne-Patienten gewonnen, die jeweils 100 mg Viagra® erhielten. Klinisch wurde der Kopfschmerz bewertet und die Empfindlichkeit perikranialer Muskeln durch Palpation bestimmt. Technisch wurde die transkranielle Dopplersonographie, die B-Bild-Sonographie der Temporal- und Radialarterie sowie das Single Photon-Emission-ComputTomography- (SPECT)-Verfahren mit radioaktiv-markierter Xenon-Inhalation verwendet. 10 von 12 Migräne-Patienten bekamen etwa 4,5 Stunden nach Sildenafil einen typischen Migräne-Kopfschmerz, der auf die übliche Medikation, in der Regel Triptane, gebessert war. Zur Überraschung der Autoren änderte sich weder der Durchmesser der mittleren zerebralen Arterie noch der globale oder regionale Blutfluss, gemessen mit SPECT. Änderungen des Durchmessers der radialen oder temporalen Arterie ergaben sich nicht. Ein Unterschied zwischen Viagra und Placebo hinsichtlich der Empfindlichkeit perikranieller Muskeln ergab sich nicht.

Die Autoren schlossen daraus, dass cGMP eine entscheidende Rolle bei der Generation von Migräne spielt, ohne dass der Durchmesser der A. cerebri media verändert sein muss.

Kommentar:

Einerseits fügt diese Arbeit einen erheblichen Baustein im pathophysiologischen Verständnis der Entstehung von Migräne-Attacken im Menschen hinzu, weil erstmals eine Migräne-Attacke völlig ohne Veränderung des zerebralen Blutflusses und des Durchmessers der A. cerebri media induziert wurde. Andererseits wirft die Arbeit einige inhaltliche und methodische Probleme auf, die für ein derartig renommiertes Journal ungewöhnlich sind. Die Messung des rCBF mit radioaktiver Xenon-Inhalation ist in Zeiten der funktionellen Kernspintomographie kaum noch als state of the art zu bezeichnen. Wegen der damit verbundenen Strahlenbelastung limitiert dies wiederum die Patientenzahl, die für „Brain“ ungewöhnlich niedrig ist. Die Ausgangshypothese scheint gewesen zu sein, dass der Wirkmechanismus von Sildenafil intrazerebral gleich ist wie der von NO und analog zu NO bzw. NO-Donatoren zu einer Vasodilatation führt. Dass dies nicht so ist, überrascht die Autoren, es muss jedoch angemerkt werden, dass die Daten der Gruppe nicht völlig konsistent sind. Kruuse zitiert nicht ihre eigene Arbeit aus dem Journal of Cerebral Blood Flow and Metabolism (Kruuse et al., J Cereb Blood Flow Metab 2002; 22: 1124-1131), in der sie praktisch identische Ergebnisse bei Gesunden findet: Induktion von Kopfschmerzen, die einem Spannungskopfschmerz bzw. einer Migräne entsprechen, die ohne Änderung des rCBF und des Durchmessers der A. cerebri media einhergehen. Im Unterschied zu den hier präsentierten Daten änderte sich jedoch der Durchmesser der Temporalarterie unter Sildenafil, nicht jedoch unter Placebo, ebenso der diastolische Blutdruck. Da diese Daten nicht diskutiert werden, bleibt offen, ob es sich nicht insgesamt um einen unspezifischen, Kopfschmerz-induzierenden Effekt bei allen Menschen handelt, der bei Migräne-Patienten nur deutlich prononcierter ist. Unabhängig davon ist der nicht zu leugnende Hauptverdienst der Arbeit, dass ein cGMP-abhängiger und vom Gefäßdurchmesser unabhängiger Mechanismus bei der Entstehung des (Migräne-) Kopfschmerzes eine wichtige Rolle zu spielen scheint. (GA)

*** Ozturk V, Cakmur R, Donmez B, Yener GG, Kursad F, Idiman F. Comparison of cortical excitability in chronic migraine (transformed migraine) and migraine without aura. A transcranial magnetic stimulation study. J Neurol 2002; 249:1268-1271

Zusammenfassung:

Hinweise auf Änderungen kortikaler Erregbarkeit bei Migränepatienten wurden in den letzten Jahren wiederholt anhand der Bestimmung von Reizschwellen zur Auslösung von Phosphenen mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) über dem visuellen Kortex beschrieben. In der vorliegenden Arbeit wurden Parameter der Exzitabilität des primär motorischen Kortex wie die motorische Schwelle in Ruhe (motor threshold, MT), die Dauer der postexzitatorischen Innervationsstille (Silent Period, SP) bei definierter Reizstärke (1,5 fache Ruhe-MT) sowie Amplituden und Latenzen der motorisch evozierten Potentiale (MEP) bei 20 Patienten mit chronischer (vormals: transformierte Migräne), 20 Patienten mit Migräne ohne Aura und 20 Kontrollprobanden verglichen. Die Patienten mit chronischer Migräne wiesen an durchschnittlich 23 Tagen/Monat Kopfschmerzen auf, ein Medikamentenmißbrauch lag bei keinem der Patienten vor. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede für die MT, MEP-Amplituden und Latenzen zwischen den Migränegruppen und den Kontrollen. Die SP war im Mittel bei chronischer Migräne (169,6 ms) im Vergleich zu den Patienten mit Migräne ohne Aura (143,1 ms) und den Kontrollen (150,4 ms) signifikant verlängert (p <0.05). Zwischen den Patienten mit Migräne ohne Aura und den Kontrollen ergab sich kein Unterschied. Die Autoren interpretieren den Befund der verlängerten SP als Ausdruck einer verlängerten postexzitatorischen Inhibition des motorischen Kortex durch eine möglicherweise erhöhte Aktivierbarkeit inhibitorischer Interneurone bei chronischer Migräne. Es wird eine mögliche unterschiedliche Pathophysiologie der chronischen Migräne im Vergleich zu Migräne mit und ohne Aura diskutiert. Kommentar: Parameter der Erregbarkeit des motorischen Kortex waren in früheren Arbeiten bei Migränepatienten überwiegend nicht verändert. So fanden Afra et al. (1998) bei Migräne mit und ohne Aura und Werhahn et al. (2000) bei Patienten mit familiärer hemiplegischer Migräne keine Gruppenunterschiede bzgl. der Dauer der Silent Period und der mit Doppelreiztechnik bestimmten intrakortikalen Fazilitierung und Inhibition. Lediglich Aurora et al. (1999) beschrieben bei Migränepatienten mit Aura eine im Kontrast zur hiesigen Arbeit verkürzte Silent Period nach Stimulation des motorischen Handareales nur in Höhe der MT, bei Stimulation mit der 1,5 fachen MT ergab sich jedoch kein Unterschied zu den Kontrollen. Die Silent Period ist Ausdruck eines inhibitorischen Effektes der TMS auf den motorischen Kortex, die unter tonischer Anspannung des abgeleiteten Muskels erkennbar ist und dem Aktionspotential der kortikal ausgelösten Antwort folgt. Die Dauer dieser Innervationsstille nimmt mit steigender Intensität des Reizes zu und ist unabhängig vom Grad der Vorinnervation. Sie kann bei starken Kortexreizen 200-300 ms betragen, ist aber auch bei Reizintensitäten in Höhe bzw. gering oberhalb der MT zu beobachten und somit unabhängig von einer ausgelösten motorischen Antwort. Dies unterstreicht das Phänomen einer Inhibition auf kortikaler Ebene. Die in anderen Arbeiten beschriebene erhöhte kortikale Erregbarkeit bei Migräne bezieht sich auf Areale des visuellen Kortex mit im Vergleich zu den Kontrollen niedrigeren Schwellen für die Auslösung von Phosphenen (Afra et al., 1998; Aurora et al., 1998; Mulleners et al., 2001). Daß die Erregbarkeit von motorischen und visuellen Kortexarealen nicht miteinander korreliert, konnte anhand des Vergleiches von Schwellen zur Auslösung von motorischen Antworten und Phosphenen auch bei gesunden Kontrollpersonen gezeigt werden. Wünschenswert wäre in der vorliegenden Arbeit gewesen, hätte man die Silent Period zusätzlich in einer niedrigeren Reizstärke, z.B. gering oberhalb der MT bestimmt, die Gruppen hinsichtlich der intrakortikalen Inhibition mit Doppelreiztechnik verglichen und zudem Phosphenschwellen gemessen. Aufgrund der Veränderung eines einzelnen Parameters der Erregbarkeit des motorischen Kortex auf eine unterschiedliche Pathophysiologie der chronischen Migräne zu schließen, erscheint nicht ausreichend gerechtfertigt. (MAG)

**** Waldie KE, Hausmann M, Milne BJ, Poulton R Migraine and cognitive function. Neurology 2002;59:904-908

Zusammenfassung:

In dieser neuseeländischen Studie wurde die cognitive Leistungsfähigkeit und akademische Karriere von Migränepatienten mit Patienten die an Spannungskopfschmerz leiden und gesunden Kontrollen verglichen. Benutzt wurden die Daten zwischen dem 3. und 26. Lebensjahr einer Bevökerungsgruppe aus der „Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study“. Dieses Register ist bekannt für die Güte von logitudinalen Daten, da verhältnismäßig wenig Zu- und Abwanderungen stattfinden und die Bevökerungsgruppe sehr homogen ist. Von den knapp tausend befragten Probanden hatten 12% eine Migräne, und weitere 11% litten an Spannungskopfschmerzen. Hierbei wurde gefunden, daß Menschen mit Migräne eine leichte Beeinträchtigung der verbalen Fähigkeiten im Alter von 3-13 aufweisen, während alle anderen untersuchten Funktionen normal waren. Dies reichte aber, um eine leichtgradig geringere akademische Karriere zur Folge zu haben. Die Autoren halten dies nicht für die Folge kumulativer Attacken, sondern gehen von einer hereditären Ursache aus.

Kommentar:

Die beschriebenen Effekte sind nachvollziehbar und die Auswahl der verwendeten Testverfahren und die Statistiken sind angemessen um die Behauptungen zu belegen. Jedoch fällt auf, daß Migräniker trotz des signifikanten Unterschieds immer noch im Normalbereich oder sogar darüber liegen, also die Unterschiede so diskret sind, dass sie nur bei solch großen Gruppen und in Längsschnittstudien auffallen. Die Autoren legen überzeugend dar, daß keine Progression verbaler diskreter Auffälligkeiten vorliegt, sondern eine in ihrer Kausalitat ungeklärte Assoziation aufgrund eines gemeinsamen Kofaktors zwischen dieser Leistungsauffälligkeit und Migräne besteht. Zusammenfassernd liegt nur eine diskret erhöhte Wahrscheinlichkeit für Jugendliche mit Migräne vor, eine weniger steile Karriere zu erleben als ihre Altersgenossen mit TTH oder ohne Kopfschmerz. Die Prognose gilt nur für die ersten 26 Lebensjahre. Ein solcher Effekt kann nur in einer Gesellschaft gemessen werden, in der Störbedingungen wie Arbeitslosigkeit und ungleiche Bildungschancen zu vernachlässigen sind. In Mißverhältnissen von Bewerberzahl und offenen Stellen, wie in höheren Hierarchien üblich, werden solche Effekte nicht zu erwarten sein. Von den Autoren werden daher auch nur drei sehr grobe Kategorien für den sozio-ökonomischen Status verwendet. Insofern sind diese Effekte zwar nachweis-, aber im praktischen Alltag vernachlässigbar. Im Gegenteil: Wenn sich ein aller Wahrscheinlichkeit nach vererbliches Merkmal „Migräne“ so hartnäckig und erfolgreich über fast alle Zeiten und Kulturen behauptet, stellt sich die Frage nach den evolutionären Vorteilen, die die Nachteile überwiegen. (MAY)

***** Marconi R, De Fusco M, Aridon P, Plewnia K, Rossi M, Carapelli S, Ballabio A, Morgante L, Musolino R, Epifanio A, Micieli G, De Michele G, Casari G. Familial hemiplegic migraine type 2 is linked to 0.9Mb region on chromosome 1q23. Ann Neurol 2003;53:376-381

Zusammenfassung:

Bei der familiär hemiplegischen Migräne handelt es sich um eine dominant vererbte Erkrankung, bei denen die Betroffenen schwere Migräneattacken mit einer Aura haben, die mehrere Tage anhalten kann. Im Rahmen der Aura kann es zu einer kompletten Hemiplegie kommen. Bei einem Teil der Patienten treten nur die Aurasymptome auf und bei anderen ist die Migräne mit episodischen Ataxie Typ II kombiniert. Eine holländische und eine französische Arbeitsgruppe hatten vor einigen Jahren einen Gendefekt auf dem Chromosom 19 identifiziert, der einen neuronalen PQ-Calciumkanal kodiert. Dieser Gendefekt erklärt aber nur etwa bei der Hälfte aller Patienten mit einer familiär hemiplegischen Migräne den Phenotyp. Die italienischen Autoren identifizierten 2 große Familien aus der Toscana und von Sizilien mit einer familiär hemiplegischen Migräne, bei denen der Genlocus auf dem Chromosom 19 intakt war. Sie führten eine ausführliche genetische Analyse mehrerer Regionen auf dem Chromosom 1 durch. Bei beiden Familien fand sich ein Gendefekt in der Region 1q23-25. Durch Mutationsanalysen wurden 2 Kaliumkanäle, die in dieser Region liegen, als Ursache der Erkrankung ausgeschlossen. In einer weiteren Publikation konnten die Autoren dann zeigen, daß das entsprechende Gen eine in der Membran lokalisierte Ionenpumpe codiert. Es gibt offenbar 2 Typen der familiär hemiplegischen Migräne, wobei der Typ 1 durch einen Gendefekt auf dem Chromosom 19 und der Typ 2 durch einen Gendefekt auf dem Chromosom 1 bedingt ist.

Kommentar:

Die mehr als 5jährige Suche nach dem zweiten Genlocus für die familiär hemiplegische Migräne ist jetzt erfolgreich abgeschlossen. Wie bei der familiär hemiplegischen Migräne Typ 1 scheint es sich auch bei dem Typ 2 um eine sog. Ionenkanalkrankheit zu handeln. Ob ein entsprechender Gendefekt auch bei Patienten, die unter einer normalen Migräne mit Aura leiden, eine Rolle spielt, wird derzeit untersucht. (HCD)


DMKG