02. Migräne, Klinik
* Podoll K, Ebel H (1998) Halluzinationen der Körpervergrößerung bei der Migräne. Fortschr Neurol Psychiat 66: 257-270.
Die Arbeit stellt zwei Kasuistiken von Kopfschmerz-Patienten vor, die nach Meinung der Autoren eine Migräne mit Aura haben. Beide Patienten haben Halluzinationen der Körpervergrößerung als Auraphänomene spontan berichtet. Beide erfüllen viele Kriterien der Migräne mit Aura; die ältere Patientin berichtete über visuelle Auren, zusätzlich über einen abnorm großen, dann abnorm schweren Kopf. Die jüngere Patientin bereichtete über 15 Kopfschmerzattacken pro Monat, typischerweise mit visuellen Auren seltener Dysarthrie und 10 mal mit einer Vergrößerung der Ohren wie bei Elefanten. Wie die Autoren zutreffend schreiben, ist die Beobachtung von Leiberfahrungsstörungen bei Migräne nicht neu, soll jedoch als mögliches Auraphänomen dem Leser in Erinnerung gebracht werden. Insgesamt hinterläßt die Arbeit einen ausgesprochen zwiespältigen Eindruck. Im Gegensatz zur sehr bewußt eingesetzten und etwas altertümlich wirkenden Sprache steht die inhaltliche Fokussierung des Artikels. Eineinhalb Druckseiten Kasuistik folgen fünf Seiten Diskussion und ca. 90 Literaturstellen. Dabei geht die Diskussion sehr ausführlich auf psychiatrische Konzepte der Körperwahrnehmungsstörung ein, läßt aber drei wichtige Punkte außer acht: Zum einen die Diagnosesicherheit bei der zweiten Patientin, die immerhin 15 Migräne-Attacken/Monat berichtet, was differentialdiagnostisch auch den Medikamenten-induzierten Kopfschmerz in Betracht ziehen lassen sollte, auch wenn als primäre Kopfschmerzart die Migräne mit Aura gesichert sein dürfte. Zum zweiten wird das Konzept der spreading depression vergleichsweise kurz diskutiert. Leão hatte die spreading depression als “cortical” spreading depression bezeichnet. Um den Nachweis ähnlicher Phänomene in tiefergelegenen Hirnstrukturen hat sich bereits vor vielen Jahren Bures verdient gemacht, wobei die Autoren aus der Fülle der Arbeiten diejenigen, die sich mit spreading depression im Thalamus beschäftigen, nicht zitieren (J. Aquiino-Cias et al., Brain Research, 1966, J. Bures et al., Physiologia Bohemoslovakia 1968). Die letzte zu diskutierende Frage wäre, inwieweit das Konzept der “subcortical” spreading depression, wie es die Autoren für die Migräne-Aura annehmen, auch bei endogenen Schizophrenien eine Rolle spielen könnte. Aus dem vielleicht verengten – Blick des Kopfschmerzforschers bleibt nach Lesen der Arbeit der Eindruck bestehen, daß sich die Autoren mit vielen Details beschäftigen, ohne die wissenschaftlich brennenden Fragen auszuwerten und zu diskutieren. (GA)
**** Wijman C, Wolf P, Case C, Kelly-Hayes M, Beiser S (1998) Migrainous visual accompaniments are not rare in late life. The Framingham study. Stroke 29:1539 – 1543.
Bei etwa 15% aller Migräneattacken tritt eine Aura auf und isolierte Migräneauren und transitorisch ischämische Attacken können differentialdiagnostisch vielfältige Probleme bereiten. Gerade bei Patienten im fortgeschrittenerem Lebensalter sollen Migräneauren ohne Kopfschmerz häufiger auftreten. Die Autoren evaluierten mittels eines Frageinventars 2110 Teilnehmer (Framingham-Studie) systematisch über das Auftreten plötzlicher visueller Symptome. Die 2110 Teilnehmer der Studie wurden von 1971 bis 1989 in zweijährigen Abständen nachuntersucht. Als Ursache der erstmalig aufgetretenen Sehstörungen fanden sich bei 70% eine Augenerkrankung, bei 18% ein Schlaganfall, bei 6% eine transitorisch ischämische Attacke, bei 10% eine Amaurosis fugax, bei 22% blieb die Ursache ungeklärt und bei 14% fanden sich visuelle Symptome einer Migräne mit Aura. Bezogen auf die Gesamtstichprobe ergab sich eine Inzidenz von visuellen Symptomen einer Migräne mit Aura von 1,23% (1,33% in dem Frauenkollektiv, 1,08% im Männerkollektiv). Bei 0,71% bezogen auf das Gesamtkollektiv waren die visuellen Symptome einer Migräne mit Aura nicht von Kopfschmerzen begleitet gewesen. Die Erstmanifestation lag für 77% dieses Kollektives jenseits des 50. Lebensjahres. Nur 19% erfüllten die Kriterien der IHS für eine Migräne mit Aura (IHS 1.2), oder für eine Migräneaura ohne Kopfschmerz (IHS 1.2.5). Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß visuelle Migränesymptome nicht selten sind. 12% dieser Patienten erlitten später einen Schlaganfall. Im Gegensatz dazu entwickelten von den 87 Patienten mit einer transitorisch ischämischen Attacke 33% einen Schlaganfall, hiervon 2/3 innerhalb von sechs Monaten nach der transitorisch ischämischen Attacke. Als weiteres Ergebnis wird festgestellt, daß kein erhöhtes Schlaganfallrisiko für Patienten mit visuellen Symptomen einer Migräne besteht. Diese große, extrem aufwendige und exzellente Untersuchung belegt, daß die Erstmanifestation von Migräne jenseits des älteren Patienten selten ist und eine sorgfältige Differentialdiagnostik durchgeführt werden muß. Die Probleme der momentan geltenden IHS-Klassifikation werden durch diese Publikation indirekt wieder aufgegriffen und die seltene Komplikation der Migräne durch Schlaganfälle erneut belegt. (IWH)