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Diagnostik und Therapie des cervikogenen Kopfschmerzes

 
Forschungsergebnisse der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft

Diagnostik und Therapie des cervikogenen Kopfschmerzes

G. Wekerle

Die Rolle der Halswirbelsäule bei der Entstehung von Kopfschmerzen wird kontrovers diskutiert. Die Diagnose eines “zervikalen” Kopfschmerzes wird allein aufgrund der Schmerzlokalisation am Hinterkopf und im Nacken zu häufig und zu Unrecht gestellt. Der cervikogene Kopfschmerz im engeren Sinne hingegen, streng einseitig, seitenkonstant und nach frontoorbital oder frontotemporal ausstrahlend, gehört mit ca. 4-5% zu den eher selteneren Kopfschmerzformen und wird nur selten korrekt diagnostiziert. Frauen scheinen etwas häufiger betroffen zu sein. Spezifische Auslöser werden in der Regel nicht genannt, in ca. 8% aller Beschleunigungsverletzungen der HWS kommt es, zumindest vorübergehend, zu einem cervikogenen Kopfschmerz [2].

Klinik
Sjaastad et al. haben 1990 eine Aufstellung diagnostischer Kriterien des cervikogenen Kopfschmerzes publiziert und diese 1998 ergänzt [6, 7], siehe Tabelle. Der cervikogene Kopfschmerz ist definiert als einseitiger und seitenkonstanter Kopfschmerz. Es kann sich um einen Dauerkopfschmerz meist fluktuierender Intensität oder um einen Attackenkopfschmerz handeln. Einzelne Attacken können Stunden oder Tage bis Wochen anhalten. Die Schmerzqualität wird als dumpf, ziehend, stechend oder bohrend, nicht pulsierend, beschrieben. Symptome im Hals-Nacken-Bereich sind essentiell wie eine Einschränkung der passiven oder aktiven Beweglichkeit und eine mechanische Auslösbarkeit oder Verstärkung der Schmerzen durch HWS-Bewegungen oder durch Druck auf definierte Triggerpunkte (paravertebral über dem Austritt der C2-Wurzel). Vegetative Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Lärmempfindlichkeit können vorhanden sein, sind jedoch weniger stark ausgeprägt als bei der Migräne. Weitere fakultative Begleitsymptome sind Schwindel und Benommenheit, Verschwommensehen, Schulter- oder Armschmerzen ohne radikuläres Verteilungsmuster oder Schluckbeschwerden bzw. ein Kloßgefühl im Hals.

Bei strenger Anwendung der Kriterien nach Sjaastad [6, 7] ist für den kopfschmerzerfahrenen Arzt eine differentialdiagnostische Abgrenzung gegenüber anderen Hemikranien im klinischen Alltag mit ausreichender Sicherheit möglich. Manchmal liegen jedoch Mischbilder vor, z.B. die Kombination eines analgetikainduzierten Kopfschmerzes mit einem cervikogenen Kopfschmerz oder, sehr selten, ein beidseitiger cervikogener Kopfschmerz (“unilaterality on two sides”, [7]). Im chronifizierten Stadium kann auch eine Schmerzausbreitung über die Mittellinie hinaus stattfinden. In unseren Augen beweisendes diagnostisches Kriterium für den cervikogenen Kopfschmerz ist eine transiente Schmerzfreiheit nach Infiltrationsblockade der ipsilateralen C2-Wurzel.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß röntgenologische Auffälligkeiten in der Regel nicht nachweisbar oder unspezifischer Natur (z.B. Spondylose oder Osteochondrose) sind und fehlen daher auch in den Kriterien nach Sjaastad. Auch aufwendigere Bildgebung hilft bei der Diagnostik nicht weiter. Nur in sehr seltenen Fällen zeigt die Kernspintomographie pathologische Veränderungen wie z.B. einen hohen Bandscheibenvorfall.

Pathophysiologie
Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, daß die Schmerzen in erster Linie auf pathologische Veränderungen der knöchernen Strukturen oder der Bandscheiben zurückzuführen sind. Dies ist der Grund, warum degenerativen Veränderungen der HWS im Röntgenbild ein viel zu hoher Stellenwert zugeschrieben wird. Nach dem heutigen Kenntnisstand geht der Ursprung der Schmerzen auf verschiedenartige Strukturen im Nacken oder am Hinterkopf zurück. Zu diesen Strukturen gehören Nerven, Nervenwurzeln, Ganglien, Facettengelenke, Bandscheiben, Periost, Muskeln, Bänder und möglicherweise sogar erweiterte venöse Blutleiter, die in nachbarschaftlicher Beziehung zu Nerven stehen [3, 7]. Die Schmerzimpulse aus diesen Strukturen vereinigen sich mit Fasern des Tractus spinalis des N. trigeminus. Ursache für die cerviko-frontale Schmerzausbreitung beim cervikogenen Kopfschmerz sind Verbindungen [4] zwischen dem Trigeminuskerngebiet und den Zervikalwurzeln eins bis vier [1]. Die Vielfalt der potentiell beteiligten Strukturen macht deutlich, warum es sich nicht um eine Krankheitsentität handeln kann, sondern lediglich um ein uniformes Reaktionsmuster, bei dem Schmerzreize unterschiedlicher anatomischer Provenienz in eine gemeinsame anatomische Endstrecke münden [5].

Differentialdiagnosen

Migräne
Die Abgrenzung des cervikogenen Kopfschmerzes zur Migräne kann schwierig sein, da beim cervikogenen Kopfschmerz auch “migränetypische” Begleitsymptome wie Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit vorhanden sein können. Eine mechanische Auslösbarkeit durch Druck auf paravertebrale Triggerpunkte wie beim cervikogenen Kopfschmerz gibt es bei der Migräne nicht. Außerdem ist die Migräne ein Attackenkopfschmerz, der spätestens, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach 72 Stunden, meist aber deutlich früher, wieder abklingt. Der cervikogene Kopfschmerz wird im chronischen Stadium eher zu einem fluktuierenden Dauerschmerz.

Clusterkopfschmerz
Es gibt nur wenige Gemeinsamkeiten zwischen dem Cluster-Kopfschmerz und dem cervikogenen Kopfschmerz. Interessanterweise gehört die mechanische Auslösbarkeit bei einigen Patienten dazu (vor allem Flexionsbewegungen im Nacken). Die vegetativen Begleitsymptome beim Cluster-Kopfschmerz sind sehr ausgeprägt, die Patienten sind unruhig, die Schmerzintensität ist extrem. Die Attackendauer ist relativ kurz (30 Minuten bis 2 Stunden), häufig treten sie nachts auf.

Chronisch paroxysmale Hemicranie
Die chronisch paroxysmale Hemicranie ist ein Attackenkopfschmerz mit sehr häufigen und kurzen Attacken (bis zu 30 mal in 24 Stunden, 2-30 Minuten Dauer). Die Attacken sind z.T. mechanisch durch Druck auf paravertebrale Triggerpunkte auslösbar. Therapeutisch und differentialdiagnostisch essentiell ist die Gabe von Indometacin, das zu einem Sistieren der Attacken führt.

Hemicrania continua
Die Hemicrania continua und der cervikogene Kopfschmerz weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Beide beginnen häufig mit einem rezidivierenden Halbseitenkopfschmerz, der in einen chronischen Schmerz übergeht. Auch bei der Hemicrania continua kommt die mechanische Triggerbarkeit vor. Vegetative Begleitsymptome stehen eher im Hintergrund. Entscheidend für die Diagnose einer Hemicrania continua ist das sichere Ansprechen auf Indometacin.

Atypischer Gesichtsschmerz
Meist einseitiger, gelegentlich auch die Seite wechselnder Gesichts-, Kopf- und Halsschmerz mit Maximum über den Wangen, dem Oberkiefer und den Zähnen. Es handelt sich um einen episodischen oder einen Dauerschmerz, häufig fluktuierend, der als dumpf, bohrend oder brennend beschrieben wird. Spezifische Auslöser oder Schmerztriggerpunkte gibt es nicht. Eine symptomatische Ursache muß ausgeschlossen werden (Röntgenaufnahmen der Nasennebenhöhlen, CCT mit Knochenfenster, MRT, zahnärztliche, augenärztliche und HNO-ärztliche Untersuchungen). Häufig finden sich begleitend psychiatrische Symptome oder auch vorangegangene operative Eingriffe im Bereich des Gesichtsschädels.

Okzipitalisneuralgie
Hierbei handelt es sich laut IHS-Klassifikation um einen paroxysmalen stechenden Schmerz mit Hyp- oder Dysästhesie sowie einer Berührungsüberempfindlichkeit im Versorgungsgebiet des N. occipitlais major oder minor, der durch eine lokale Infiltrationsanästhesie vorübergehend zu durchbrechen ist. Okzipitalisneuralgien können entzündlich, postherpetisch oder traumatisch bedingt sein.

Gefäßdissektionen.
Die Carotisdissektion kann plötzliche unilaterale Kopfschmerzen orbital, periorbital, in der Stirn-, Hals- oder Nackenregion hervorrufen. Häufig findet sich auf der betroffenen Seite ein Horner-Syndrom. Auch bei der Vertebralisdissektion kann ein Halbseitenkopfschmerz mit Betonung der Nacken- und Okzipitalregion auftreten. In beiden Fällen können neurologische Ausfälle aufgrund einer Minderperfusion des nachgeschalteten Gefäßgebietes auftreten.

Therapie
Zur Therapie des cervikogenen Kopfschmerzes fehlen kontrollierte Studien weitgehend. Nach der bisherigen Erfahrung ist der Schmerz medikamentös mittels Analgetika bzw. nichtsteroidalen Antirheumatika kaum zu beeinflussen, kontrollierte Studien über die Wirksamkeit physikalischer Therapiemaßnahmen liegen nicht vor. Studien zur Wirksamkeit manualtherapeutischer Maßnahmen sind widersprüchlich [5]. Die Wirksamkeit alternativer Behandlungsmethoden (z.B. Akupunktur) oder der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) ist ebenfalls nicht erwiesen. Ein Vorschlag zum pragmatischen Vorgehen ist:

Wegen der beschriebenen Symptomüberschneidungen zwischen dem cervikogenen Kopfschmerz und der Hemicrania continua empfehlen wir grundsätzlich einen Therapieversuch mit Indometacin (z.B. Amuno 3×50 mg bis max 250 mg/d). Wird der Patient daraufhin beschwerdefrei, so ist die Diagnose cervikogener Kopfschmerz falsch. Tritt keine Besserung ein, so veranlassen wir innerhalb der Attacke eine diagnostische C2-Blockade mit einem Lokalanästhetikum (z.B. CarbostesinR). Tritt Beschwerdefreiheit ein, sollte der Patient in einem Kopfschmerztagebuch den Schmerzverlauf nach erfolgter Blockade genau dokumentieren. Führt die C2-Blockade lediglich zu kurzfristiger, d.h. Stunden bis wenige Tage anhaltende Schmerzfreiheit, so ist sie zumindest für die Diagnose entscheidend. Wir veranlassen in diesen Fällen eine erneute Blockade mit zusätzlicher lokaler Applikation von Cortison (z.B. LipotalonR).

Nach der Literatur wird der C2-Blockade lediglich ein diagnostischer Wert zuerkannt. Eigene Beobachtungen zeigen jedoch, daß gerade im frühen Akutstadium ein bis drei Blockaden zu monatelanger Beschwerdefreiheit geführt haben. Alternativ oder kombiniert kann eine Infiltration des N. occipitalis major versucht werden. Auch eine intraartikuläre Blockade mit einem Lokalanästhetikum ggf. in Kombination mit einem Kortikosteroid ist möglich. Alle Blockadeverfahren sollten jedoch ausschließlich von erfahrenen Anästhesisten und, mit Ausnahme der Infiltration des N. occipitalis, unter Durchleuchtung durchgeführt werden.

  Eine Vorstellung der Patienten in der Physikalischen Medizin ist im Hinblick auf eine Rezidivvermeidung bei Vorhandensein prädisponierender Faktoren (z.B. Fehlhaltung) wünschenswert. Im Akutstadium sind physikalische oder manualtherapeutische Maßnahmen nach unseren Erfahrungen nicht hilfreich.

Tabelle: Diagnostische Kriterien des cervikogenen Kopfschmerzes [7]

Literatur

  1. Bogduk, N.: Cervical causes of headache. Cephalalgia 9 [suppl 10] (1989) 172-173
  2. Drottning, M., Staff, P.H., Sjaastad, O.: Cervicogenic headache after whiplash injury. Cephalalgia 17 (1997) 288 (abstr).
  3. Jansen, J., Bardosi, A., Hildebrandt, J., Lücke, A.: Cervicogenic, hemicranial attacks associated with vascular irritation or compression of the cervical nerve root C2.Clinical manifestation and morphological findings. Pain 39 (1989) 203-212
  4. Kerr, F.W.L: Central relationships of trigeminal and cervical primary afferents in the spinal cord and medulla. Brain Res 43 (1972) 561-572
  5. Pöllmann, W., Keidel, M., Pfaffenrath, V.: Headache and the cervical spine: a critical review. Cephalalgia 17 (1997) 801-816
  6. Sjaastad, O., Fredriksen, T.A., Pfaffenrath, V.: Cervicogenic headache: diagnostic criteria. Headache 30 (1990) 725-726
  7. Sjaastad, O., Fredriksen, T.A., Pfaffenrath, V.: Cervicogenic headache: diagnostic criteria. Headache 38 (1998) 442-445.

DMKG