Forschungsergebnisse

Diagnostik und Therapie des Halswirbelsäulenkopfschmerzes
Autoren:

Kurzfassung der ausführlichen Publikation
"Kopfschmerzen und die Halswirbelsäule"
von W. Pöllmann, M. Keidel und V. Pfaffenrath
in der Zeitschrift NERVENARZT 67: 821-836, 1996


Viel zu häufig werden Kopfschmerzen alleine aufgrund ihres Beginns oder ihrer Hauptmanifesrtation im Nacken-und Hinterkopfbereich fälschlicherweise ursächlich mit Veränderungen der Halswirbelsäule in Verbindung gebracht. Mit solchen vermeintlich "zervikal bedingten" Kopfschmerzen befassen sich Orthopäden, Radiologen, Rheumatologen, Anästhesisten, Internisten, Neurochirurgen, physikalische Mediziner, HNO-Ärzte und Neurologen. Ausdruck dieses multidisziplinären Zuganges ist eine verwirrende Terminologie wie Halswirbelsäulen (HWS)-Syndrom, cervikocephales Syndrom, cervikale Migräne, Occipitalisneuralgie, occipitales Myalgie-Neuralgiesyndrom oder vertebragener bzw. spondylogener Kopfschmerz. Von den primären Kopfschmerzen beginnt z.B. die Migräne in 12 % occipital und bis zu 64% der Patienten erleben vor, während oder nach der Kopfschmerzphase Nackenschmerzen.. Dies führt bei einer nach den IHS-Kriterien eindeutigen Migräne zu ärztlichen Fehldiagnosen einer "HWS-Erkrankung" in 40-60%. Ähnliches gilt für die occipitale Manifestation eines Kopfschmerzes vom Spannungstyp.

Die derzeit gültigen Kriterien der International Headache Society IHS definieren bislang nur einen zeitlich begrenzten "Halswirbelsäulenkopfschmerz ", der sich entweder spontan oder unter Behandlung innerhalb eines Monats zurückbildet und radiologische Auffälligkeiten zeigen muß. Für längeranhaltende einseitige und seitenkonstante, vom Nacken nach fronto-temporal oder okulär ausstrahlende Schmerzen definierten 1990 Sjaastad et al. einen "cervikogenen Kopfschmerz" (CEK) mit obligater mechanischer Schmerz-Auslösung bzw. Verstärkung durch HWS-Bewegungen oder durch Druck auf spezifische Triggerpunkte. Er imponiert meist als kontinuierlicher und in der Intensität fluktuierender, dumpfer oder ziehend-bohrender Dauerschmerz mäßiger bis schwerer Intensität und kann von Stunden oder Tage dauernden Attacken überlagert sein. Weiteres wichtiges diagnostisches Kriterium des CEK ist eine transiente Schmerzfreiheit nach Blockade der Wurzel C2 bzw. des Nervus occipitalis major mit einem Lokalanästhetikum. er tritt teilweise posttraumatisch auf und betrifft Frauen häufiger als Männer.

PATHOPHYSIOLOGIE
Das neuroanatomische Substrat für die Ausbreitung von Schmerzen von cervical nach frontal sind demnach Verbindungen zwischen dem Nucleus spinalis nervi trigemini und den oberen vier Cervikalwurzeln. Diese morphologische und funktionelle Vermischung von spinalen Hinterhornfasern mit denes des Trigeminus im Sinne einer "cervico-trigeminalen Schaltstelle" ist verantwortlich für die Weiterleitung von Schmerzimpulsen von cervical nach frontal und vice versa.

DIAGNOSTIK - Welche Zusatzbefunde können die Diagnose eines CEK stützen?
Röntgenübersichtsaufnahmen in vier Ebenen sollen symptomatische Ursachen auszuschließen. Hierzu gehören die basiläre Impression, Übergangsanomalien, eine rheumatiode Arthritis mit ggf. atlanto-axialer Subluxation, eine cervikale Myelopathie oder knöcherne Tumoren. Allerdings besteht heute Übereinstimmung darin, daß radiologisch faßbare degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule nicht obligat mit Schmerzen korreliert sind.

Blockaden zur Lokalisations- und Differentialdiagnostik:
Blockaden des N. occipitalis major, des medialen Astes des Ramus dorsalis der Wurzel C2, sind technisch einfacher durchführbar, haben weniger Nebenwirkungen und stellen nach Bovim eine Alternative zu C2-Blockaden dar. Facettenblockaden der Zygapophysialgelenke sind eine weitere diagnostische Möglichkeit.

Die Manualdiagnostik beschäftigt sich mit den muskulären, cutanen und subcutanen klinischen Zeichen und sogenannten "Blockierungen" bei Patienten mit Nacken-und Hinterkopfschmerzen. Bis heute ist ungeklärt, ob derartige Befunde bei bestimmten Kopfschmerzsyndromen eine "spezifische" diagnostische Bedeutung haben.


Therapeutische Ansätze
Blockaden N. occipitalis major, C2, Facettengelenke Nerven- oder Wurzelblockaden mit Lokalanästhetika (z. B. Bupivacain 0,5%) haben vorwiegend diagnostischen Wert. Technische Schwierigkeiten und potentielle Risiken der Durchführung, ihre oft recht kurze Wirkungsdauer und die daraus resultierende Notwendigkeit häufiger Applikationen schränken ihren therapeutischen Einsatz ein.

Manualtherapie
Die Bedeutung einer "Manualtherapie" beim CEK ist nicht schlüssig geklärt. Daß solche Therapien überschätzt werden, zeigt eine Studie, die in einem doppelblinden Design bei Patienten mit chronischen Nackenschmerzen keine signifikanten Unterschiede zwischen manualtherapeutisch Behandelten gegenüber einer Kontrollgruppe verifizieren konnte.

Operationen
Operative Interventionen mit unterschiedlichen Techniken (mikrochirurgische Bandscheiben-OP., z.T. mit Fusionen, Neurolyse bzw. Neurektomie N. occipitalis major, Facettendenervation, vaskuläre Dekompression) werden bei Schmerzen im Hinterkopf-Nacken-HWS-Bereich häufig durchgeführt . Diese Operationsverfahren sind untereinander nur bedingt vergleichbar. Das untersuchte Patientengut ist nicht selten inhomogen und unscharf definiert und weist Patienten mit z.T. einseitigen, aber auch mit bilateralen Beschwerden auf. Im Zeitraum 1957-1996 finden sich 22 Publikationen mit 1218 operierten Patienten bei einer Nachbeobachtungszeit von 0 bis 15 Jahren. Nur 2 Studien beziehen sich auf den CEK (Bovim et al. 1992, Pikus & Phillips 1995). Eine Neurolyse des N. occipitalis major bei klinisch eindeutigem CEK zeigte trotz einer initialen Schmerzfreiheit (46%) nur bei 4 von 50 Patienten (8%) einen über 16 Monate anhaltenden Effekt (Bovim et al.), eine mikrochirurgische Dekompression der Wurzel C2 in 37% Schmerzfreiheit (Pikus & Plillips). Kontrolllierte Lanzeitstudien an größeren Patientenpopulationen stehen derzeit noch aus.


DISKUSSION UND AUSBLICK
Jeder kopfschmerzerfahrene Arzt ist mit der häufigen Vor- und Fehldiagnose "HWS-bedingter Kopfschmerz" vertraut. Die Tatsache, daß Schmerzen im Nacken oder Hinterkopf empfunden werden oder - wie oft bei der Migräne- dort einsetzen und nach frontal ausstrahlen, bedeutet nicht, daß sie auch dort entstehen. Verläßliche Diagnosen können gemäß den IHS-Richtlinien und der CEK-Definition von Sjaastad et al. nur Anamnese und klinischer Befund liefern, da es sich z.B. bei manualdiagnostisch erhobenen Auffälligkeiten um reine Epiphänomene handeln kann.

Was kann derzeit als gesichert gelten?
Der CEK umfaßt "symptomatische" und "idiopathische" Fälle. Er ist dementsprechend nicht als solitäres von der HWS ausgehendes Kopfschmerzsyndrom anzusehen. Schmerzreize unterschiedlicher anatomischer Provenienz münden in eine "gemeinsame anatomische Endstrecke" münden und bewirken das uniforme Bild des CEK. Der CEK ist demnach keine eigenständige Entität, sondern ein unspezifisches homogenes "Reaktionsmuster".

Durch Blockaden der Wurzel C2 (evtl. auch C3) und der Facettengelenke, am einfachsten und offensichtlich gleich verläßlich, durch eine Blockade des N. occipitalis major, läßt sich der CEK hinreichend sicher von anderen primären Kopfschmerzen wie der Migräne und dem Spannungskopfschmerz abgrenzen.

Der CEK ist im Gegensatz zur attackenweise auftretenden Migräne ein überwiegend täglicher Kopfschmerz. Es kann sich deshalb nicht um eine Migränevariante handeln. Dafür spricht auch, daß gelegentlich der CEK zusammen mit einer Migräne auftritt. Bei solchen Patienten ist unter einer Migräneprophylaxe eine deutliche Reduktion der Migräneattackenfrequenz zu beobachten, ohne daß sich der tägliche, einseitige und seitenkonstante CEK-Kopfschmerz bessert. Andererseits sind Medikamente zur Migränekupierung oder zur Migräneprophylaxe bei Patienten mit einem typischen CEK erwartungsgemäß nicht wirksam.

Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen keine durch systematische Untersuchungen validierten Therapieempfehlungen hinsichtlich medikämentöser, physikalisch-medizinischer oder manualtherapeutischer Verfahren. Diesbezüglich besteht dringlicher Handlungsbedarf. Derzeit sollten Patienten mit einem CEK außerhalb kontrollierter Studien noch keiner operativen Intervention unterzogen werden, da allgemein anerkannte, wirksame und im Verlauf kontrollierte Verfahren fehlen. Bei "erfolgreichen" Eingriffen ist oft die Katamnese zu kurz, die nicht seltenen Rezidive entgehen der Beurteilung.



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