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Prophylaxe und Therapie des medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes

 

Behandlung

Prophylaxe und Therapie des medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes

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Die häufige oder tägliche Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln zur Akutbehandlung von Migräneattacken oder Spannungskopfschmerzen kann bei Kopfschmerzpatienten schon nach vier Wochen, häufig aber erst nach Jahren zu einem täglichen, dumpf-drückenden und diffusen Kopfschmerz führen, der als medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz bezeichnet wird. Zusätzlich zu diesem Dauerkopfschmerz können bei Patienten mit Migräne weiterhin Migräneattacken auftreten. Bei Patienten mit chronischem Spannungskopfschmerz kann die Differenzierung evtl. nur nach einem Medikamentenentzug getroffen werden.

Die Definition der Internationalen Kopfschmerz-Gesellschaft (International Headache Society) unterscheidet einen akuten medikamenteninduzierten Kopfschmerz (z.B. nach Nitraten oder Calciumantagonisten) von einem täglichen Kopfschmerzmittel-induzierten Kopfschmerz. Dieser kann ebenso bei regelmäßiger Einnahme von Migränemitteln entstehen.

Prädisponiert für die Entwicklung dieses Krankheitsbildes sind Patienten, die ursprünglich an einer Migräne oder an einem Spannungskopfschmerz litten. Besonders gefährdet sind auch Patienten mit frühzeitiger Symptomentwicklung in der Kindheit und entsprechend häufiger Medikamenteneinnahme bereits im Kindesalter. Darüber hinaus sind auch Patienten mit hohem Pflichtbewußtsein und Streßpotential prädisponiert, da sie häufig dazu neigen, die Akutmedikation auch vorbeugend einzunehmen. Patienten mit einem Kombinationskopfschmerz (Migräne und Spannungskopfschmerz) sind besonders gefährdet. Nicht selten tritt das Krankheitsbild auch bei Kopfschmerz nach Schädel-Hirn-Traumata oder Schleudertraumata der Halswirbelsäule auf. Dauerkopfschmerzen sind eher selten, wenn Analgetika aus anderer Indikation, z.B. bei rheumatischen Erkrankungen oder chronischen Rückenschmerzen, eingenommen werden. Klinisch sind die Kopfschmerzen durch einen dumpf-drückenden Dauerkopfschmerz charakterisiert, der morgens bereits beim Erwachen vorhanden ist und den ganzen Tag anhält. Der Schmerz nimmt bei körperlicher Belastung zu. Vegetative Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen finden sich seltener und geringer ausgeprägt als bei der Migräne. Frauen sind gegenüber Männern im Verhältnis 5:1 überrepräsentiert.

Ätiologie

Ursprünglich war angenommen worden, daß nur Ergotamin zu einem Dauerkopfschmerz führen kann. In der Zwischenzeit muß man davon ausgehen, daß potentiell alle Analgetika, Ergotamin, Sumatriptan und sonstige Medikamente zur Behandlung akuter Migräneattacken und Kopfschmerzen, einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz hervorrufen können, wenn sie häufig oder täglich eingenommen werden. Besonders problematisch sind analgetische Mischpräparate, Mutterkornalkaloide (auch Dihydroergotamin) und Migränemittel, die Tranquilizer oder Codein enthalten. Analgetische Monosubstanzen wie Acetylsalicylsäure, Paracetamol und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen und Naproxen führen selten zu Dauerkopfschmerzen.

Eine echte Polytoxikomanie mit Opioiden oder Alkohol wird kaum beobachtet. Von den Substanzen zur Migräneprophylaxe können Dihydroergotamin und Methysergid chronische Kopfschmerzen auslösen.

Verantwortlich für die vermehrte Medikamenteneinnahme ist zu Anfang die Angst vor einer Migräneattacke oder anderen Kopfschmerzen und die Angst, einen Arbeitstag zu verlieren. Die Schmerzbefreiung durch das Migränemittel hat darüber hinaus einen hohen Belohnungscharakter. Das “Suchtverhalten” wird auch durch das stetige Mitführen der Schmerzmittel dokumentiert. Im späteren Verlauf unterhalten die nach Reduktion oder Absetzen der Medikamente heftig zunehmenden Kopfschmerzen im Sinne von “Rebound”-Kopfschmerzen den Abusus.

Eine Migräneprophylaxe oder eine medikamentöse Prophylaxe von Spannungskopfschmerzen während der regelmäßigen Einnahme von Schmerzmitteln ist sinnlos, da offenbar der therapeutische Effekt von Migräneprophylaktika wie Betarezeptorenblockern (Metoprolol, Propranolol), Flunarizin, Cyclandelat und Serotoninantagonisten (Pizotifen, Methysergid) durch die Schmerzmittel antagonisiert wird. Dasselbe gilt für die Aufhebung der prophylaktischen Wirkung von Amitriptylin beim Spannungskopfschmerz. Auch psychotherapeutische Maßnahmen sind unter diesen Umständen wenig erfolgversprechend.

Spätfolgen

Dauerkopfschmerzen sind nicht die einzige Folge des chronischen Analgetikamißbrauchs. Organische Spätfolgen umfassen den Ergotismus (kalte Akren, Claudicatio intermitten, Bauchkrämpfe, Angina pectoris), Nierenschäden, rezidivierende Magen- und Duodenalulzera und eine erhöhte Mortilität durch Tumoren der ableitenden Harnwege. Viele Patienten haben auch depressive Symptome, die sich häufig nach Absetzen der Medikamente bessern.


Behandlung

Besteht nach der Anamnese ein medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz, muß zunächst der Patient über den Zusammenhang zwischen Medikamenteneinnahme und Kopfschmerz aufgeklärt werden. Er sollte dann zu einer Entzugsbehandlung motiviert werden. Die Weigerung des Arztes, das bisher eingenommene Medikament zu verschreiben, bewirkt lediglich einen Arztwechsel. Die bisher eingenommenen Substanzen sollten nur bis zum Beginn des Entzuges weiter verschrieben werden. Viele Patienten können durch den Hinweis auf fehlende Alternativen (die in der Regel schon alle zuvor erprobt wurden) zum Entzug motiviert werden. Üblicherweise stehen sie dem Schmerzmittelentzug ängstlich gegenüber, da sie ähnliche Therapiestrategien wie beim Alkoholentzug erwarten und zusätzlich Entzugserscheinungen befürchten. Hier ist die Aufklärung über den Ablauf des Entzugs und die nachfolgende Therapie besonders wichtig.

Ambulanter Medikamentenentzug

Ein ambulanter Medikamentenentzug kann versucht werden, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:

– Einnahme von analgetischen Mischpräparaten ohne gleichzeitige Einnahme von Codein oder Tranquilizern,

– hohe Motivation des Patienten,

– Mithilfe durch die Familie oder Freunde.

a) Vorgehen bei Migräne als ursprünglichem Kopfschmerz:

Zu Beginn des Medikamentenentzuges (bevorzugt an einem Freitag) dürfen Schmerz- und Migränemittel nicht mehr zugänglich sein. Alle Schmerzmittel werden abrupt abgesetzt. Besteht ein Patient, der psychotrope Substanzen wie Codein oder Tranquilizer einnimmt, auf einen ambulanten Entzug, werden diese Substanzen in Abhängigkeit von der Ausgangsdosis über zwei Wochen langsam ausschleichend abgesetzt. Mit dem Entzug kann evtl. eine Migräneprophylaxe entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft erfolgen.

b) Vorgehen bei Spannungskopfschmerzen als ursprünglichem Kopfschmerz:

Unmittelbar mit dem Entzug sollte eine Prophylaxe mit dem trizyklischen Thymoleptikum Amitriptylin (z.B., Saroten 25-75 mg) oder Amitryphilin – Oxid (Equilibrin 30-90 mg) in einer Einzeldosis vor dem Zubettgehen begonnen werden.

Den Patienten muß eine Telefonnummer mitgeteilt werden, unter der sie während des Entzuges und bei Rückfallgefahr mit dem Therapeuten Kontakt aufnehmen können.

Stationärer Medikamentenentzug

Ein stationärer Medikamentenentzug ist angezeigt, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

  • langjähriger medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz,
  • zusätzliche Einnahme psychotroper Substanzen (Schlafmittel, Tranquilizer, Anxiolytika),
  • regelmäßige Einnahme von Migränemitteln, die Codein enthalten,
  • mehrere erfolglose Selbstentzüge,
  • Angst des Patienten vor dem ambulanten Entzug,
  • hoher Leistungsanspruch und Angst auszufallen,
  • ungünstige familiäre Begleitumstände,
  • ausgeprägte Begleitdepression.

Wir empfehlen für die Behandlung während der akuten Entzugsphase:

  • parenterale Gabe eines Antiemetikums dreimal tgl.,
  • z.B. 3 x 10 mg Metoclopramid (Paspertin), wenn notwendig,
  • Flüssigkeitssubstitution per infusionem (das heftige Erbrechen führt zu Exsikkose, die ihrerseits den Kopfschmerz verstärkt),
  • während der ersten zehn Tage der Entzugsphase bei mittelschweren Entzugskopfschmerzen Naproxen (z.B. Proxen 2 x 500 mg),
  • bei starken Entzugskopfschmerzen maximal alle 8 Stunden 500-1000 mg Acetylsalicylsäure i.v. (Aspisol),
  • Ein Kopfschmerz während des Entzugs sollte nicht mit Medikamenten behandelt werden, die man gerade entzieht
  • bei erforderlicher Sedierung sollte auf niedrig potente Neuroleptika wie Thioridazin (z.B. 30-60 mg Melleril retard) zurückgegriffen werden
  • Einige Spezialisten empfehlen den Beginn einer Migräneprophylaxe mit Metoprolol oder Propanolol bereits vier Wochen vor dem Medikamentenentzug, um dadurch eine Linderung der Entzugssymptome zu erreichen.

Im Entzug vermieden werden sollte die Gabe von

• Ergotamintartrat,

• Sumatriptan

• Dihydroergotamin,

• zentral wirksamen Analgetika und Opioiden (z.B. Valoron, Tramal)

Die Dauer des stationären Aufenthaltes sollte je nach Schweregrad der Entzugssymptomatik zwischen fünf und 14 Tagen betragen. Bei regelmäßiger Einnahme von Codein muß dieses langsam in Form von retadiertem Codein (DHC ret.) über 2 Wochen abgesetzt werden. Ein analoges Vorgehen ist bei regelmäßiger Einnahme von Tranquilizern und Anxiolytika erforderlich (Gefahr eines Medikamentendelirs oder epileptischer Anfäle bei abruptem Absetzen).

Verhaltenstherapeutische Begleittherapie

Die Betreuung des Patienten durch Arzt und Psychotherapeuten verbessert die Compliance. An Tagen, an denen die Entzugssymptomatik nicht zu ausgeprägt ist, können spezifische verhaltenstherapeutische Behandlungsstrategien (z.B. Streßbewältigungstraining, progressive Relaxation) eingeleitet werden. Die Beratung schließt auch die Aufklärung der Lebenspartner ein (die Partner wissen z.B. häufig nicht, daß es sich bei der Migräne nicht um eine psychosomatische Erkrankung handelt).


Nachbehandlung

Nach dem Medikamentenentzug auftretende Migräneattacken oder Spannungskopfschmerzen werden nach den Richtlinien der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft behandelt. Vor, während und nach dem Medikamentenentzug und Abklingen der Entzugssysmptomatik muß eine ausführliche Beratung des Patienten bezüglich einer weiteren medikamentösen und nichtmedikamentösen Prophylaxe erfolgen und – wenn möglich – eine Verhaltenstherapie zur Vermeidung eines erneuten Medikamentenmißbrauchs eingeleitet werden.

Zur Dokumentation des Therapieerfolges und der Wirksamkeit der prophylaktischen Nachbehandlung sollte der Patient ein Kopfschmerztagebuch führen. Die nach der Entzugsbehandlung eingeleitete Prävention mit Migräneprophylaktika oder trizyklischen Antidepressiva wird über einen Zeitraum von mindestens drei bis sechs Monaten nach dem Medikamentenentzug fortgeführt und dann ausschleichend abgesetzt.

Kontrolluntersuchungen zur Überprüfung des Therapieerfolges sind alle vier bis sechs Wochen erforderlich.

Bei der weiteren Akuttherapie der Migräneanfälle müssen die kritischen kumulativen Monatsdosen der einzelnen Schmerzmittel beachtet werden, um eine erneute Abhängigkeit zu vermeiden. Die kritische kumulative Wochendosis liegt z.B. bei 4-6 mg Ergotamintartrat (2-3 Suppositorien oder 4-6 Tabletten eines handelsüblichen Migränemittels), 300 mg Sumatriptan oral oder 18 mg s.c. keinenfalls sollten mehr als maximal zweimal pro Woche Schmerzmittel eingenommen werden.

Der Gesamtablauf von Medikamentenentzug und Begleittherapie bei medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzen ist in der Tabelle 1 dargestellt:

  • Aufklärung über Bedingungsmechanismen und therapeutische Möglichkeiten.
  • Zunächst Führen eines Kopfschmerz-Tagebuches und Registrierung eingenommener Medikamente (einschl. frei verkäuflicher Präparate).
  • Entscheidung über ambulanten oder stationären Entzug.
  • Analgetika und Ergotamin abrupt absetzen (ambulant möglich, bevorzugt stat. Entzug)
  • Barbiturate, Tranquilizer, Codein und Opioide langsam ausschleichen (Reduktion der Ausgangsdosis alle 10 – 14 Tage um 25%)
  • Überbrückung mit 2 x 500 mg Naproxen (vorausgesetzt es bestand kein Abusus von NSAIR’s) oder in schweren Fällen Acethylsalicylsäure 500 mg – 1 g i.v. alle 8 Stunden.
  • Bei Bedarf Antiemetika wie Metoclopramid, z.B. Paspertin 3 x 20 gtt. tgl. oder Domperidon (Motilium 3 x 10 mg).
  • Begleitende oder nachfolgende Verhaltenstherapie.
  • Nach dem Entzug Migräneprophylaxe oder prophylaktische Behandlung des Spannungskopfschmerzes.

    Tab. 1: Ablauf von Medikamentenentzug und Begleittherapie bei medikamenteninduziertem Dauerkopfschmerz.

    Prognose

    Etwa 70% der Patienten sind nach dem Medikamentenentzug frei von Dauerkopfschmerzen oder leiden nur noch unter gelegentlichen Migräneattacken; 30% werden rückfällig.

    Günstige Voraussetzungen für einen Therapieerfolg sind:

    • Migräne als primärer Kopfschmerz,
    • Dauer des täglichen Kopfschmerzes weniger als 5 Jahre und
    • Isolierte Einnahme von Ergotamin, Dihydroergotamin oder Sumatriptan

    Prädiktoren für Therapieversager sind:

    • mangelnde Einsichtsfähigkeit,
    • Kombination von Analgetika mit Benzodiazepinen,
    • Dauer der täglichen Kopfschmerzen mehr als 5 Jahre
    • chronischer Spannungskopfschmerz als primärer Kopfschmerz,
    • sekundärer Krankheitsgewinn,
    • mehrfache erfolglose Selbstentzüge,
    • mangelnde Unterstützung durch die Familie,
    • nicht abgeschlossene Renten- oder Versicherungsverfahren bei posttraumatischen Kopfschmerzen.


    Literatur:

    1. H.C. Diener, Medikamenteninduzierter Kopfschmerz in: F.B.M. Ensink und D. Soyka (Herausgeber). Migräne – aktuelle Aspekte eines altbekannten Leidens. Springer: Berlin/Heidelberg/New York/Tokio. 1994, 463-475.
    2. H.C. Diener, Wilkinson M. (eds). Drug induced Headache. Springer: Berlin/Heidelberg/New York/Tokio. 1988

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