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Forschungsergebnisse der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft
Neurologische Klinik und Poliklinik, Klinikum Großhadern München
Die Diagnose “Migräne mit oder ohne Aura erfolgt nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft. Diagnostisch wird keine Nahrungsmittelabhängigkeit gefordert.
Als mögliche Auslöser für Migräneattacken werden -von Ärzten und Patienten- viele verschiedene Nahrungsmittel in Betracht gezogen. Dazu zählen in erster Linie Rotwein und andere alkoholische Getränke, Natriumglutamat, Nitrate, Süßigkeiten, vor allem Schokolade, Käse und andere Milchprodukte, Eier und Getreide (Leira und Rodriguez 1996).
Epidemiologische Untersuchungen:
Harte Daten dazu, welchen Stellenwert diätetische Auslöser tatsächlich bei der Migräne haben, gibt es nicht. Es gibt nur Studien, die deutliche methodische Mängel aufweisen. Scharff und Mitarbeiter befragten insgesamt 172 Kopfschmerzpatienten, davon 69 Migränepatienten nach Triggerfaktoren ihrer Kopfschmerzattacken.
35.3% der Migräniker gaben Alkohol, 9.4% Aspartam, 9.1% Käse, 22.1% Schokolade, 10.6% Coffein und 12.9% Natriumglutamat als “zumindest gelegentliche Trigger” an. Die Studie verschweigt bei welchem Prozentsatz von Patienten die entsprechenden Nahrungsmittel wirklich häufig oder regelhaft Attacken auslösen. Die statistische Auswertung der Daten zeigte bezüglich der Nahrungsmittel-Trigger keine Unterschiede zwischen Patienten mit Migräne und Spannungskopfschmerzen oder Kombinationskopfschmerzen.
In einer Untersuchung der belgischen Kopfschmerzgesellschaft wurden in den 80iger Jahren 217 Migräne-Patienten mit einem Fragebogen zu Auslösern der Migräneattacken befragt. Dabei wurde nicht zwischen seltenen, häufigen und regelhaften Auslösern unterschieden, was die Wertigkeit dieser Untersuchung ebenfalls ganz erheblich einschränkt. 51.6% der Patienten gaben alkoholische Getränke, 44.7% bestimmte Lebensmittel, in erster Linie Käse, Eier, Schokolade und fettes Essen, als Auslöser an. Zweifel an der Zuverlässigkeit der belgischen Untersuchungsergebnisse entstehen auch, wenn man bedenkt, daß hier nur von 6.9% der Patienten das Wetter als Auslöser angeschuldigt wurde, was sich nicht mit den eigenen Erfahrungen bei Patienten aus dem süddeutschen Raum deckt.
Pathophysiologische Konzepte:
Es gibt im wesentlichen 2 Sichtweisen dazu wie bestimmte Nahrungsmittel Migräneattacken auslösen könnten. Zum einen durch die biochemische Wirkung einzelner Nahrungsbestandteile oder durch allergische Mechanismen.
Migräne als “chemisch induzierte” Erkrankung:
Als biochemische Aktive Nahrungsbestandteile kommen vor allem biogene Amine und Nitrate in Betracht.
Manche Autoren postulieren, daß vasoaktive Amine verwandt dem Serotonin und Noradrenalin direkt durch ihre Wirkung auf Blutgefäße oder aber auch indirekt durch die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin Attacken auslösen könnten. Dabei könnte den Aminen Tyramin, Histamin und Beta-Phenyläthylamin bei der Auslösung von Kopfschmerzen besondere Bedeutung zukommen. Diese Amine findet man vor allem in bestimmten Käsesorten (Parmesan, Chamembert, Cheddar), Nüssen, Schweinefleisch und Alkohol.
Die Hypothese der Nitritoxyd (NO) vermittelten Migräneattacken wird aktuell vor allem von der Arbeitsgruppe um Jes Olesen heftig beforscht, so daß hierzu auch aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen. Seit Jahrzehnten ist bekannt, daß Nitrite als häufige Nebenwirkung Kopfschmerzen auslösen können (Wolff). Mittlerweile haben verschiedene Arbeitsgruppen gezeigt, daß Glyzeryl-Trinitrat als NO-Spender bei Migränepatienten Attacken auslöst, die nicht von spontanen Attacken unterschieden werden können (Olesen, Thomsen, Lassen 1994, Lassen 1996). Es ist also davon auszugehen, daß NO zumindest bei der Generierung von Migräneattacken eine Rolle spielt. Ob NO auch bei der weiteren Aufrechterhaltung der Attacke eine Rolle zukommt, ist nicht gesichert. Als Wirkmechanismus von NO bei einer Migräneattacke werden folgende Mechanismen diskutiert: Vasodilatation cerebraler Gefäße, direkte Aktivierung von perivasculären sensorischen Nervenfasern, und die Einleitung einer perivaskulären neurogenen Entzündung (Lassen 1998).
Nitrite oder Nitrat-Zusätze finden sich in stark gepökelten Speisen, aber auch in vielen Medikamenten zur Behandlung der coronaren Herzkrankheit. Es ist interessant zu bemerken, daß gepökelte Speisen im allgemeinen nicht zu den häufigen klassischen Migränetriggen gezählt werden. Es liegen auch keine Daten dazu vor, welchen Stellenwert gepökelte Speisen tatsächlich bei der Generierung von Migräneattacken spielen. Die Auslösung von Migräneattacken im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen erfolgte ausschließlich mit Nitroglyzerin (Nitrolingual®).
Angemerkt sei weiterhin, daß Nitrate nicht nur bei Migräne- und Clusterkopfschmerzpatienten, sondern auch bei Patienten ohne primäre Kopfschmerzerkrankung Attacken auslösen können. Man spricht dann in der aktuellen Literatur vom Nitrat- oder Nitritkopfschmerz (früher Hot-Dog-Kopfschmerz). Dieser tritt bei entsprechend empfindlichen Personen innerhalb einer Stunde nach Exposition auf und erfüllt die klassischen Kriterien eines “vaskulär bedingten Kopfschmerz”: Der Schmerzcharakter ist pulsierend und pochend mit der Hauptschmerzlokalisation im Stirnbereich beidseits (Henderson und Raskin 1992). Körperliche Anstrengung führt wie bei der Migräne zu einer Schmerzintensivierung. Im Gegensatz zum Migränekopfschmerz fehlen jedoch vegetative Symptome wie Übelkeit und Erbrechen und es kommt nicht zu Aura-Symptomen.
Migräne als Allergie:
Als zweiter Hauptmechanismus für eine diätetische Abhängigkeit von Migräneattacken werden Nahrungsmittelallergien diskutiert. Hierzu wurden die ersten doppel-blinden Plazebo-kontrollierten Studien 1983 publiziert: Vaughan et al konnte bei 6 von 43 unselektierten Migräne-Patienten durch bestimmte Nahrungsmittel Attacken auslösen. In einer späteren Studie mit 104 Patienten konnte bei 43% mit einer Auslaßdiät ein 50%iger oder größerer Rückgang der Attackenfrequenz erzielt werden. Egger et al berichten, daß 93% von 88 Kindern mit häufigen Migräneattacken gut auf eine oligoantigene Diät ansprachen und daß bei 40 Kindern die diätetischen Auslöser ermittelt werden konnten. Die Vorstellung einer allergischen Genese der Migräne stützt sich zudem auf Untersuchungen, die einen Plasmaanstieg von Histamin und Prostaglandin D2 nach Nahrungsmittel-induzierten Migräne-Attacken messen konnten (Steinberg et al, Mansfield et al, Olson et al).
In allen genannten Studien konnten die mutmaßlichen Allergene nie durch einen Hauttest, sondern nur durch Diät mit stufenweisen Kostaufbau ermittelt werden. Ein hoher Prozentsatz der Kinder und Erwachsenen reagierte auf mehr als ein Nahrungsmittel. Attackenfreiheit konnte auch mit Diät bei den meisten Patienten nicht erzielt werden. Studien, die die beschriebenen Ergebnisse bestätigen, fehlen.
Klinische Einwände zum Stellenwert von Nahrungsmitteln bei der Migräne:
- Für die kritische Wertung der Daten aus der Literatur muß man bedenken, daß viele Patienten ein erhebliches Kausalitätsbedürfnis an den Tag legen, wenn es gilt, das Auftreten von Migräneattacken zu klären, so daß die Angaben aus der Literatur wahrscheinlich die Bedeutung von Triggerfaktoren eher über- denn unterschätzen.
- Desweiteren kann nicht sicher entschieden werden, ob ein bestimmes Essverhalten vor Einsetzen der Kopfschmerzen als “Essensgelüßt” und damit Ausdruck der Prodromalphase der Migräne, oder als tatsächlicher Triggerfaktor einzuordnen ist (Dahlöf und Riman 1994).
- Ungeachtet von der spärlichen Datenlage ist zudem nicht bekannt und auch nicht durch genetische Unterschiede zu erklären, warum nur bei einem bestimmten Anteil von Migränepatienten diätetische Trigger eine Relavanz aufweisen.
Die genannten Bedenken zur Datenlage erhärten sich zudem in Anbetracht der widersprüchlichen Ergebnisse kontrollierter Studien, die bestimmte Trigger wie Schokolade oder Alkohol eingehender untersuchten.
Marcus und Mitarbeiter führten bei 63 Kopfschmerzpatienten eine doppelblinde Provokationsstudie mit Schokolade und dem geschmacklich nicht von Schokolade zu unterscheidenden Ersatzstoff Carob durch.
Im Gegensatz zu Schokolade enthält Carob das biogene Amin Beta-Äthylphenylamin nicht. Das Auftreten von Kopfschmerzattacken unterschied sich nicht in den beiden Gruppen. Die Autoren schlossen daraus, daß Schokolade nicht als Migränetrigger eingeordnet werden kann und daß die Bedeutung von vasoaktiven biogenen Aminen für die Generierung von Attacken wahrscheinlich eher überbewertet wird.
Eine ähnliche Vergleichsstudie führten Gibb und Mitarbeiter mit 20 Migränepatienten durch. Hier löste Schokolade bei 42% der Patienten Migräneattacken aus. Carob triggerte bei keinem Patienten eine Attacke. In einer dritten Untersuchung löste der Genuß von Schokolade bei allen 6 untersuchten Migränepatienten Attacken aus, nicht jedoch der Genuß von chemisch veränderter Schokolade, die keine biogenen Amine mehr enthielt. Trotz der geringen Patientenzahl untermauert diese Untersuchung nicht den Stellenwert vasoaktiver biogener Amine in der Generierung von Migräneattacken, räumt aber Schokolade einen gewissen Stellenwert als Migränetrigger ein.
Ähnlich diskrepante Studienergebnisse liegen zum Alkohol, insbesondere zum Rotwein vor. Eine 1988 im Lancet publizierte Studie untersuchte den Trigger Alkohol bei folgenden drei Gruppen:11 Migränepatienten mit Attacken, die typischerweise durch Rotwein getriggert werden können, 5 Migränepatienten ohne entsprechende Anamnese und 8 gesunden Kontrollen. Der Genuß von spanischen Rotwein mit niedrigem Tyramingehalt löste bei 9 der 11 Patienten mit Rotwein als bekanntem Trigger Attacken aus, nicht jedoch in den beiden anderen Gruppen. Dagegen konnte der Genuß von Wodka-Lemon in keiner Untersuchungsgruppe Kopfschmerzattacken auslösen.
Die Autoren schlussfolgerten, daß Rotwein Migräneattacken auslöst, ohne daß dafür Alkohol oder Tyramin verantwortlich gemacht werden können.
Zusammenfassende Beurteilung:
Zusammenfassend kann man nur ableiten, daß Patienten darauf hingewiesen werden sollten, daß Nahrungsmittel im Einzelfall ein Kofaktor bei der Generierung einer Attacke sein können. Nur wenn sich Hinweise auf eindeutige Trigger ergeben, sollte als Prophylaxe eine entsprechende Auslaßdiät versucht werden. Diätetische Maßnahmen als primärer Therapieansatz für rezidivierende Kopfschmerzattacken, entbehren derzeit jeder Grundlage.
Literatur
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- Dahlöf C, Riman E: How does the International Headache Society classification perform in a european headache clinic? In: Frontiers in headache research. Volume 4: Headache classification and epidemiology. Jes Olesen (Editor) Raven press New York (1994)77-86.
- Egger J, Carter CM, Wilson J, Turner MW, Soothill JF: Is migraine food allergy? A double-blind controlled trial of oligoantigenic diet treatment. Lancet 2 (1983) 865-869.
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- Olesen J, Iversen HK, Thomsen LL. Nitric oxide supersensitivity: a possible molecular mechanism of migraine pain. Neuroreport 1993; 4: 1027-1030.
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