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MIGRÄNE IM KINDESALTER

 

Forschungsergebnisse

Migräne im Kindesalter

Univ.Doz. Dr. Çiçek Wöber-Bingöl

Klinisches Bild

Migräne ist dadurch gekennzeichnet, daß die Kopfschmerzen von verschiedenen anderen Symptomen begleitet werden. Ein Kind, das eine Migräneattacke erleidet, hört oft auf zu spielen, kann nicht lernen, schaut blaß aus und möchte sich unter Umständen hinlegen und schlafen. Der Migränekopfschmerz weist mäßige bis starke Intensität auf und kann auf einer oder beiden Seiten, meist im Stirnbereich, lokalisiert sein. Durch Bewegung, selbst durch bloßes Umhergehen, können die Kopfschmerzen weiter zunehmen. Neben dem Schmerz kommt es zu Übelkeit, manchmal auch zu Erbrechen. Licht und Lärm werden als unangenehm empfunden. Manchmal treten – bereits vor den Kopfschmerzen – Sehstörungen oder Schwierigkeiten beim Sprechen auf; selten kommt es zu Kribbeln, Einschlafen oder Schwäche einer Körperhälfte. Die Kopfschmerzattacke dauert meist wenige Stunden. Die neurologischen Symptome klingen meist innerhalb einer Stunde ab.

Diagnostische Kriterien

Von der International Headache Society werden unter der Diagnose Migräne insgesamt sieben Subdiagnosen unterschieden, wobei im Kindesalter (wie im Erwachsenenalter) der Migräne ohne Aura die größte Bedeutung zukommt. Die Migräne mit Aura, charakterisiert durch neurologische Begleiterscheinungen im Sinne einer Funktionsstörung auf cerebralem kortikalem und/oder Hirnstammniveau, ist seltener. Vor allem bei kleineren Kindern sind die von der IHS geforderten Kriterien nicht immer erfüllt. Dies liegt vor allem an der kurzen Dauer (oft 2 Stunden) und der häufig bifrontalen bzw. frontomedianen – aber nicht halbseitigen – Schmerzlokalisation bei den jungen Patienten.

Die derzeit gültigen IHS Kriterien der Migräne ohne Aura (IHS 1.1), der Migräne mit Aura (IHS1.2) sowie des migränischen Kopfschmerzes, der nicht alle Migränekriterien erfüllt (IHS 1.7) sollen nachfolgend zusammengefaßt werden:

IHS 1.1 Migräne ohne Aura

Mindestens 5 Attacken, die B – D erfüllen.

Kopfschmerzattacken dauern 2 – 48 Stunden.

Mindestens 2 der folgenden Charakteristika:

1. Einseitige Lokalisation

2. Pulsierender Charakter

3. Mäßige bis schwere Intensität

4. Verstärkung durch körperliche Routinetätigkeit.

Mindestens eines der folgenden Begleitsymptome

1. Übelkeit und/oder Erbrechen

2. Licht- und Lärmempfindlichkeit.

Organische Schmerzursache ausgeschlossen.

IHS 1.2 Migräne mit Aura

Mindestens 2 Attacken, die B erfüllen

Mindestens 3 der folgenden Charakteristika:

1. Ein oder mehrere voll reversible Aurasymptome.

2. Aurasymptome entwickeln sich allmählich über mindestens 4 Minuten.

3. Kein Aurasymptom dauert länger als 60 Minuten

4. Kopfschmerz folgt der Aura nach maximal 60 Minuten.

Organische (Schmerz)ursache ausgeschlossen.

IHS 1.7 Migränischer Kopfschmerz, der nicht alle Kriterien erfüllt

Erfüllt alle bis auf ein Kriterium einer oder mehrerer Migräneformen.

Erfüllt nicht die Kriterien des Spannungskopfschmerzes.

Die erwähnten Kriterien unterscheiden sich von jenen der Erwachsenen nur in einem Punkt, nämlich der geforderten Mindestdauer bei der Migräne ohne Aura (4 Stunden bei Personen über 15 Jahre).

Differentialdiagnose

Die differentialdiagnostische Abgrenzung der Migräne ergibt sich einerseits gegenüber symptomatischen und andererseits gegenüber anderen idiopathischen Kopfschmerzformen. Bei der Anamneseerhebung ist es wichtig, daß sich der Arzt Zeit nimmt, um vom Kind selbst wichtige Informationen zu erhalten.

Folgende Fragen sollten geklärt werden:

  • Ist der Kopfschmerz erstmals aufgetreten, rezidivierend oder chronisch?
  • Sind die Kopfschmerzen immer ähnlich, oder gibt es unterschiedliche Kopfschmerzformen?
  • Wie verhält sich das Kind, wenn es Kopfschmerzen hat?
  • Wie oft klagt das Kind über Kopfschmerzen?
  • Beginnen die Kopfschmerzen schlagartig oder allmählich?
  • Treten die Schmerzen zu einer bestimmten Tageszeit auf?
  • Treten die Kopfschmerzen aus dem Schlaf heraus auf?
  • Wie lange dauern die Schmerzen?
  • Wie stark sind die Schmerzen?
  • Sind Kopfschmerzhäufigkeit, Dauer und Intensität gleichbleibend oder zunehmend?
  • Wo sind die Kopfschmerzen lokalisiert?
  • Wie sind die Kopfschmerzen?
  • Nehmen die Schmerzen bei körperlicher Tätigkeit zu?
  • Treten Begleitsymptome (Übelkeit, Erbrechen, Licht-, Lärmüberempfindlichkeit etc.) auf?
  • Treten neurologische Symptome auf (Sehstörungen, Sprachstörungen etc.)?
  • Setzen diese Symptome plötzlich ein oder entwickeln sie sich langsam?
  • Hat das Kind Fieber?
  • Ist eine Wesensänderung, Verschlechterung der Schulleistungen etc. aufgetreten?
  • Hat das Kind epileptische Anfälle entwickelt?
  • Voranamnese incl. Schwangerschaft und Geburt.
  • Medikamentenanamnese.


In der klinischen Untersuchung sollte auf folgende Punkte geachtet werden:

• Meningeale Zeichen

• Pupillen, ggf. Fundi

• Paresen, Ataxie

• Bewußtseinslage, Orientierung, Verhalten

• Körpertemperatur, internistische Untersuchung

Organisch bedingte Kopfschmerzen kommen häufig vor im Rahmen von Erkältungskrankheiten, grippalen Infekten, Angina, (akuten) Nebenhöhlenentzündungen sowie nach Verletzungen (z.B. bei einer Schädelprellung oder Hirnerschütterung). Aber auch nicht korrigierte Sehstörungen können Kopfschmerzen verursachen. Alle genannten Erkrankungen stellen keine differentialdiagnostischen Schwierigkeiten dar. Sowohl die Begleitumstände als auch die Kopfschmerzsymptomatik lassen sich problemlos von der Migräne abgrenzen. Rezidivierende migräneartige Kopfschmerzen sind jedoch bei den Eltern des Kindes und oft auch beim behandelnden Arzt mit der Angst vor einer intracraniellen Raumforderung, Gefäßmalformation oder ähnlichem verbunden und führen zur Frage der apparativen Abklärung. Dabei ist von der Prämisse auszugehen, Schrottschußdiagnostik zu vermeiden und statt dessen eine exakte Anamnese zu erheben und eine klinisch neurologische Untersuchung durchzuführen (siehe oben). Anlaß zur weiteren Abklärung sollten eine atypische Kopfschmerzsymptomatik, gravierende Symptomänderungen und natürlich ein abnormer neurologischer Befund sein. Kinder, bei denen aufgrund der Anamnese und des klinisch neurologischen Befundes die Diagnose Migräne gestellt wird, sollten nicht mit apparativer “Ausschlußdiagnostik” belastet werden. Vorzuziehen sind klinische Verlaufsuntersuchungen mit dem Auftrag an die Eltern bei Zunahme oder Änderung der Kopsfchmerzsymptomatik das Kind in jedem Fall wieder vorzustellen.

Indikationen für weiterführende Diagnostik bei Kindern, die aufgrund von Kopfschmerzen vorgestellt werden:

  • Augenärztliche Untersuchung kann als Screeningverfahren eingesetzt werden.
  • Orthopädische Begutachtung bei Kindern mit abnormer Haltung oder druckschmerzhafter perikranieller Muskulatur.
  • Psychologische Untersuchung beim idiopathischen Kopfschmerz um Belastungsfaktoren aufzudecken und therapeutische Optionen zu klären.
  • Kraniales CT oder MRI: nicht “routinemäßig” erforderlich, sondern bei gezielten Schädelröntgen: nur nach einer Kopfverletzung sinnvoll, anderenfalls obsolet.
  • Nasennebenhöhlenröntgen kein Screeningverfahren, nur gezielt einsetzen.
  • Halswirbelsäulenröntgen kein Screeningverfahren, nur gezielt einsetzen.
  • EEG als Screeningtest zum Ausschluß intracranieller struktureller Läsionen ungeeignet, gezielter Einsatz zur Klärung einer zusätzlich bestehenden Epilepsie.
  • Lumbalpunktion nur in seltenen Ausnahmefällen bei entsprechender Klinik.

Unter den idiopathischen Kopfschmerzen stellt der Spannungskopfschmerz die wichtigste Differentialdiagnose dar. Diese Kopfschmerzform kann durch die geringere Intensität, den nicht-pulsierenden Charakter, die fehlende Verstärkung bei körperlicher Tätigkeit, vor allem aber durch die fehlenden vegetativen und neurologischen Begleitsymptome meist klar von der Migräne abgegrenzt werden. Clusterkopfschmerzsyndrome, charakterisiert durch einseitige heftige Schmerzen begleitet von Augentränen und -rötung sowie Rhinorrhoe, Ptose etc. kommen im Kindesalter extrem selten vor.


Mögliche Migränetrigger

Auslöser, die zum Auftreten einer Kopfschmerzattacke beitragen können sind Veränderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus (zu wenig oder zu viel Schlaf), Verzögerung oder Auslassen von Mahlzeiten, Schulstreß, Konflikte in der Familie und Ängste. Außerdem können Lebens- und Genußmittel wie Käse, Schokolade und Nüsse eine Migräneattacke auslösen. Man muß aber berücksichtigen, daß diese Lebensmittel keineswegs bei allen Migränepatienten Kopfschmerzattacken auslösen. Auch Wetterveränderungen werden immer wieder für die Entstehung von Kopfschmerzen verantwortlich gemacht. Dabei soll man aber nicht andere behandelbare und veränderbare Auslöser übersehen!!

Wie kann sich Migräne bei kleinen Kindern äußern?

Eine motorische Unruhe und Reizbarkeit können die einzigen beobachtbaren Anzeichen des Kopfschmerzes bei Kleinkindern sein, die ihre Beschwerden noch nicht artikulieren können. Manchmal leiden Kinder – ohne erkennbare Ursache – an wiederkehrenden Bauchschmerzen und entwickeln später eine Migräne.

Therapie der Migräne im Kindesalter

In der Therapie der kindlichen Migräne ist der erste Schritt das Erkennen und Vermeiden von Triggerfaktoren sowie gegebenenfalls eine Änderung des Lebensstils mit reglmäßigen Mahlzeiten, ausreichenden Lernpausen und geregeltem Schlaf-Wach-Rhythmus. In der akuten Migräneattacke sollten die Eltern für Reizabschirmung sowie eine entspannend-beruhigende Atmosphäre sorgen und sich selbst ruhig-zurückhaltend verhalten. Gerade bei (kleineren) Kindern vermögen wenige Stunden Schlaf oder ein vorgezogener Nachtschlaf, die Attacke zu kupieren.

Zur medikamentösen Attackenkupierung werden in der Literatur folgende Substanzen erwähnt, von denen allerdings nur einige in entsprechenden Studien geprüft wurden:

  • Analgetika
  • Paracetamol (Saft, Brausetablette, Zäpfchen)
  • Acetylsalicylsäure
  • Acetaminophen
  • Ibuprofen
  • Migränemittel
  • Ergotaminprärate
  • Sumatriptan

Als therapeutische Richtlinien sind folgende Punkte zu berücksichtigen:

Das Analgetikum so früh als möglich geben.

Wenn die Attacke durch Hinlegen zufriedenstellend kupiert werden kann, keine Analgetika verabreichen.

Dem Kind sollte ein sorgsamer Umgang mit Analgetika vermittelt werden, um zu verhindern, daß sich im Erwachsenenalter ein Medikamentenabusus entwickelt.

Mischpräparate sind zu vermeiden.

Nach der Erfahrung der Autorin läßt sich die überwiegende Mehrzahl der kindlichen Migräneattacken gut mit Paracetamol oder Acetylsalicylsäure behandeln.

Ergotaminpräparate sollten nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden.

Sumatriptan ist im Kindesalter nicht zugelassen, wurde aber kürzlich in einer klinischen Studie hinsichtlich seiner Wirksamkeit bei der kindlichen Migräne untersucht.

Eine prophylaktische Therapie im engeren Sinne ist abgesehen von den eingangs erwähnten Maßnahmen nur bei einem kleinen Teil der kindlichen Migränepatienten erforderlich. Zu beachten ist, daß eine prophylaktische Therapie nicht gleich bei der Erstvorstellung des Kindes begonnen wird, sondern ein Beobachtungszeitraum von vier Wochen abgewartet werden sollte, in welchem das Kind (sofern dazu schon selbst in der Lage) einen Kopfschmerzkalender führen sollte. Deutliche Zunahme der Attackenhäufigkeit sollte ein Überdenken der Diagnose zur Folge haben und zu genauer Evaluierung des psychosozialen Hintergrundes Anlaß geben. Zur medikamentöse Prophylaxe der kindlichen Migräne können Flunarizin, Magnesium, Natrium-Valproat und Betablocker eingesetzt werden, wobei die Behandlungsdauer drei Monate betragen sollte und die Autorin nach ihrer klinischen Erfahrung der erstgenannten Substanz den Vorzug gibt. Nicht medikamentöse Prophylaxe der Migräne im Kindesalter umfaßt z.B. Akupunktur, Biofeedback und Entspannungstechniken.

Literatur

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