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Genetik der Migräne – DMKG

 

Neurologische Universitätsklinik, Klinikum Großhadern,

Ludwig-Maximilians-Universität München, 81377 München

Genetik der Migräne

Autoren

Zusammenfassung

Familien- und Zwillingsstudien zeigten schon lange die Bedeutung genetischer Faktoren bei der Migräne. Mit molekulargenetischen Methoden konnten jetzt erstmals Mutationen in einem Gen für einen Calcium-Kanal als Ursache für eine Sonderform der Migräne, die familiäre hemiplegische Migräne, identifiziert werden. Diese Form der Migräne ist also eine “Ionenkanalerkrankung”. Ob dies auch für die häufigeren Formen der Migräne zutrifft, ist noch ungeklärt. Diese Erkenntnis eröffnet neue Wege zum Verständnis der Pathophysiologie der Migräne, und führt möglicherweise zu neuen Ansätzen in ihrer Behandlung und Prophylaxe.

Klassische Genetik

Familienstudien

Die Prävalenz der Migräne in der Bevölkerung beträgt etwa 16% für Frauen und ungefähr 6% für Männer. Wenn man wissen will, welchen Einfluß genetische Faktoren bei Migräne haben, muß man die Häufigkeit des familiären Auftretens in Bezug setzen zur allgemeinen Häufigkeit. Russell et al. [1] konnten zeigen, daß die Verwandten ersten Grades eines Patienten mit Migräne ohne Aura (MO) ein 1,9-fach erhöhtes Risiko für MO haben. Das Risiko von Ehepartnern war um den Faktor 1,5 erhöht. Dies deutet auf den Einfluß genetischer und Umweltfaktoren in der Pathogenese der MO. Leidet ein Indexpatient dagegen unter einer Migräne mit Aura (MA), so ist das MA-Risiko für einen Verwandten ersten Grades um das 4-fache gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht, wohingegen Ehepartner kein erhöhtes Risiko aufweisen. Daraus ergibt sich, daß bei der MA genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen. Aus diesen für MO und MA unterschiedlichen Ergebnissen, sowie aus der Tatsache, daß das Risiko für MA bei Verwandten von MO-Patienten nicht wesentlich erhöht ist, und umgekehrt, folgt außerdem, daß MO und MA wohl unterschiedliche Ätiologien haben.

Zwillingsstudien

Alle Zwillingsstudien bei Migräne finden eine höhere Konkordanz bei eineiigen Zwillingen (im Schnitt 50%) im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen (im Schnitt 14%). Diese Ergebnisse zeigen erneut die Bedeutung genetischer Faktoren bei Migräne, zeigen aber auch, daß kein einfacher Mendel´scher Erbgang mit vollständiger Penetranz zugrundegelegt werden kann (da die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen sonst 100% sein müßte) [2]. Es müssen also noch andere, nicht genetische Ursachen am Entstehen der Erkrankung beteiligt sein.

Molekulare Genetik

Untersuchung von Kandidaten-Genen

Die klassischen Methoden der Genetik zeigen bereits, daß genetische Faktoren bei Migräne von Bedeutung sind. Mit den Methoden der Molekulargenetik muß nun geklärt werden, welche Gene und Proteine beteiligt sind. Ein Ansatz ist, nach Mutationen in Genen zu suchen, deren Produkte eine Rolle in der Pathophysiologie der Migräne spielen. Die naheliegende Untersuchung von Serotonin-Rezeptor-Genen bei Migräne-Patienten zeigte allerdings keine Veränderungen.

Assoziation mit anderen erblichen Erkrankungen

Migräne tritt häufig im Zusammenhang mit anderen hereditären Erkrankungen auf, und diese Assoziation könnte auf eine genetische Verwandtschaft deuten. Man findet zum Beispiel ein um den Faktor 2,4 erhöhtes Migräne-Risiko bei Patienten mit Epilepsie [3].

“Epilepsie-Gene” können daher als Kandidaten-Gene für Migräne angesehen werden.

Eine weitere Erkrankung, die mit Migräne assoziiert ist, ist das MELAS-Syndrom (mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktat-Azidose und “stroke-like episodes”). Mehr als 70% der MELAS-Patienten und sehr viele ihrer oligosymptomatischen Angehörigen leiden unter Migräne. Für eine mögliche Mitbeteiligung mitochondrialer DNA spricht auch die Tatsache, daß Migräne häufiger von der Mutter als vom Vater übertragen wird. Zudem konnte man biochemisch und mittels Kernspin-Spektroskopie einen geswörten Energiemetabolismus in Gehirn und Muskel von Migräne-Patienten nachweisen. Allerdings zeigte eine Untersuchung der mitochondrialen DNA von 23 Patienten mit MA keine Mutationen [4].

CADASIL (cerebrale autosomal dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie) geht ebenfalls häufig mit MA einher. Die Erkrankung wurde im Jahr 1993 auf Chromosom 19q12 kartiert [5]. Die Ähnlichkeiten zwischen CADASIL und der familiären hemiplegischen Migräne (FHM) führten damals zur Untersuchung von Chromosom 19 bei FHM.

Kopplungsanalysen

Die FHM ist eine seltene autosomal dominante Variante der MA. Die Diagnose kann gestellt werden, wenn eine Hemiparese im Rahmen der Aura auftritt und mindestens ein Verwandter 1. Grades gleichartige Attacken hat. Mittels Kopplungsanalyse konnte der Genort für FHM auf Chromosom 19p13 kartiert werden [6], und im Jahr 1996 fand man das für FHM verantwortliche Gen [7].

Mutationen in einem Calcium-Kanal-Gen bei FHM

Bei ca. der Hälfte aller untersuchten Familien mit FHM findet man Mutationen in einem Calcium-Kanal-Gen auf Chromosom 19p13 [7]. Andere Mutationen in dem gleichen Gen können zur episodische Ataxie Typ II oder zur spinocerebellären Ataxie Typ 6 führen. Interessanterweise führen Mutationen im Maushomolog dieses Gens bei der Maus neben einer Ataxie auch zu einer Epilepsie [8], so daß sich hier auf molekularer Ebene eine weitere Verbindung zwischen Migräne und Epilepsie zeigt (siehe oben). Ein zweiter Genlocus für FHM auf Chromosom 1 liegt ebenfalls in der Nähe eines Calcium-Kanals. Bei der FHM handelt es sich also um eine Kanalerkrankung. Ob dies auch für die häufigeren Formen der Migräne wie MO und MA zutrifft, ist noch Gegenstand der Forschung. Klinisch spricht das Auftreten von FHM und MA in den gleichen Familien sowie die gleichen Charakteristika von Kopfschmerz und Aura dafür, daß es sich um Krankheitsbilder der gleichen Gruppe handelt. In einer Geschwisterpaar-Studie fanden sich zudem Hinweise, daß die Chromosom 19p13-Region auch bei einem Teil der Patienten mit MA involviert sein könnte [9]. Die Identifizierung eines Calcium-Kanal-Gens als verantwortliches Gen für FHM eröffnet neue Wege zum Verständnis der Pathophysiologie der Migräne, und führt möglicherweise zu neuen Ansätzen in der Behandlung und Prophylaxe der Migräne.


Literatur

  1. Russell MB, Iselius L, Olesen J. Migraine without aura and migraine with aura are inherited disorders. Cephalalgia 1996;16:305-309
  2. Haan J, Terwindt GM, Ferrari MD. Genetics of Migraine. Neurologic Clinics 1997;15:43-60
  3. Ottman R, Lipton RB. Comorbidity of migraine and epilepsy. Neurology 1994;44:2105-2110
  4. Klopstock T, May A, Seibel P, Papagiannuli E, Diener HC, Reichmann H. Mitochondrial DNA in migraine with aura. Neurology 1996;46:1735-1738
  5. Tournier-Lasserve E, Joutel A, Melki J, et al. Cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukencephalopathy maps to chromosome 19q12. Nature Genetics 1993;3:256-259
  6. Joutel A, Bousser MG, Biousse V, et al. A gene for familial hemiplegic migraine maps to chromosome 19. Nature Genetics 1993;5:40-45
  7. Ophoff RA, Terwindt GM, Vergouwe MN, et al. Familial hemiplegic migraine and episodic ataxia type-2 are caused by mutations in the Ca2+ channel gene CACNL1A4. Cell 1996;87:543-552
  8. Hess EJ. Migraines in Mice? Cell 1996;87:1149-1151
  9. May A, Ophoff RA, Terwindt GM, et al. Familial hemiplegic migraine locus on 19p13 is involved in the common forms of migraine with and without aura. Human Genetics 1995;96:604-608


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