.
< – Inhaltsverzeichnis



1. Migräne, Klinik


*** Terwindt GM, Ferrari MD, Tijhuis M, Groenen SMA, Picavet HSJ, Launer LJ. The impact of migraine on quality of life in the general population. The GEM study. Neurology 2000;55:624-629

Zusammenfassung: Bei vielen Migränepatienten ist die Lebensqualität beeinträchtigt. Die meisten bisher durchgeführten Studien bezogen sich allerdings auf Patienten, die wegen ihrer Migräne einen Arzt aufgesucht hatten. Daten zur Lebensqualität, die prospektiv und populationsbezogen erhoben worden sind, gibt es bisher nur in den Vereinigten Staaten. Die Autoren unternahmen eine entsprechende Studie in Holland. Sie führten eine repräsentative Befragung in zwei Städten in Holland durch, die repräsentativ für die Bevölkerung in Holland sind. Die Diagnose einer Migräne erfolgte über ein strukturiertes klinisches Interview über Telefon. Die endgültige Diagnose wurde nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft gestellt. Die Lebensqualität wurde mit dem RAND 35-Item Health Survey gemessen. Insgesamt wurden auf diese Weise 5.998 Personen erfasst, von denen 620 im vergangenen Jahr eine Migräneattacke hatten. 396 hatten eine Migräne ohne Aura, 111 mit Aura und 81 mit und ohne Aura. Als Kontrollen dienten Personen mit Asthma und chronischen Muskel- und Gelenkschmerzen. Im Vergleich zu Patienten ohne Migräne hatten Migränepatienten deutliche Einschränkungen in der Lebensqualität. Es bestand eine umgekehrte Korrelation zur Häufigkeit der Migräneattacken. Die Lebensqualität von Migränepatienten war schlechter als die von Asthmapatienten, aber besser als von Patienten mit chronischen Muskel- und Gelenkschmerzen. Es ergab sich eine eindeutige Komorbidität zwischen Migräne, Asthma und Gelenk- und Muskelschmerzen.

Kommentar: Nur durch große populationsbezogene Studien kann die Lebensqualität für Patienten, die an bestimmten Krankheiten leiden, zuverlässig erfasst werden. Erstaunlich in der hier durchgeführten Studie war die Tatsache, dass 54% aller Patienten mit Migräne deswegen noch nie wegen Kopfschmerzen einen Arzt aufgesucht hatten. Neu ist der hier beschriebene Zusammenhang zwischen Asthma und Migräne. Bekannt ist bereits der Zusammenhang zwischen Depressionen, Angsterkrankungen, Panikattacken und Schlaganfall. Die Beobachtung, dass auch eine Korrelation mit Muskel- und Gelenkschmerzen besteht, könnte darauf hindeuten, dass bei Migränepatienten möglicherweise eine Veränderung der zentralen Schmerzschwelle vorliegt. (HCD)


**** Lipton RB, Hamelsky SW, Kolodner KB, Steiner TJ, Stewart WF. Migraine, quality of life and depression. A population-based case-control study. Neurology 2000;55:629-635

Zusammenfassung: Es gibt eine ganze Reihen von Untersuchungen über die Komorbidität von Depressionen und Migräne. Viele dieser Studien wurden allerdings bei Populationen durchgeführt, die wegen einer der beiden Erkrankungen den Arzt aufgesucht hatten. Über die mögliche Koinzidenz beider Erkrankungen in der allgemeinen Bevölkerung gibt es bisher wenig Studien. Die amerikanischen und englischen Autoren führten Telefoninterviews an repräsentativen Stichproben in den USA und England durch und fragten dabei mit Hilfe von strukturierten Interviews und Messinstrumenten nach Migräne und Depressionen. Insgesamt auf diese Art 389 Patienten mit Migräne und 379 Kontrollen identifiziert. Migräne und Depressionen traten gehäuft zusammen auf mit einem Prävalenzquotienten von 2,7. Depressionen und Migräne führten auch zu einer signifikanten Reduktion der Lebensqualität. Kommentar: Für die praktische Behandlung von Migränepatienten ist es außerordentlich wichtig, Komorbidität zu erkennen. Der Erfolg einer Prophylaxe beispielsweise wird deutlich schlechter sein, wenn nicht erkannt wird, dass gleichzeitig eine Depression besteht. Hier bietet sich insbesondere der Einsatz von trizyklischen Antidepressiva an, da diese sowohl eine migräneprophylaktische Wirkung haben als auch antidepressiv wirken. Eine entsprechende Wirkung für selektive Serotoninwiederaufnahmehem-mer auf die Migräne ließ sich bisher nicht nachweisen. Auf die in dem Artikel dargestellten ausführlichen Einlassungen zur Lebensqualität wird hier nicht im Detail eingegangen, da sie epidemiologisch nicht besonders relevant sind. (HCD)


** Hernandez-Latorre MA, Roig M Natural history of migraine in childhood. Cephalalgia 2000;20:573-579

Zusammenfassung: Ziel dieser prospektiven, longitudinalen 10-Jahres follow-up-Studie war, den Verlauf von Migräne zu beobachten und frühe Prädiktoren aufzuzeigen, die auf einen negativen klinischen Verlauf hindeuten. 181 Kinder mit Migräne wurden in diese Studie integriert, davon hatten 24,3% die erste Migräneattacke vor dem 6. Lebensjahr und 57 % die Erstmanifestation zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr. Eine positive Familienanamnese lag bei 77,5% aller Patienten vor. Nur 12% der beobachteten Kinder benötigten medikamentöse Prophylaxe, während 88% ohne Dauermedikation in zufriedenstellendem Zustand waren. Die Autoren schlussfolgern, dass die meisten Migränepatienten, deren Migräne sich nach dem 6. Lebensjahr manifestiert, keine medikamentöse Prophylaxe brauchen und dass je früher sich Migräne manifestiert, desto wahrscheinlicher ein negativerer Verlauf ist. Die Autoren resümieren, dass vor, dass es zumindest zwei unterschiedliche Migräneformen gibt, die sich unterschiedlich im Leben manifestieren und dann einen unterschiedlichen Verlauf nehmen.

Kommentar: Die Autoren beschreiben in ihrem epidemiologischen Teil eine Erstmanifestation der Migräne zwischen 6. und 8. Lebensjahr. Mädchen nach dem Alter von 10 Jahren sind signifikant häufiger von Migräne betroffen als Jungen. In Konkordanz zu anderen Studien findet sich eine hohe positive Familienanamnese für Migräne. In der Pionierarbeit von Bille (1981, 1997) wurden 73 Patienten über 40 Jahre beobachtet, wobei bei 22% der Patienten Migräne persistierte. Sillampää (1983) untersuchte Remissionsraten von Migränekindern, wobei 22% nach 7 Jahren voll remittierten, wenn Migräne im 8. Lebensjahr aufgetreten war und 25% remittierten, wenn Migräne nach dem 14. Lebensjahr aufgetreten war. Schwierig in der Veröffentlichung zu eruieren ist, welche von den Patienten der ursprünglichen Gruppe dann in die 181 ausgewerteten Patienten eingingen, von denen dann der natürliche Verlauf der Migräne beobachtet wurde. Teilweise bedingen auch Übersetzungsschwierigkeiten diese Probleme. Nicht aus der Studie hervorgeht, in welcher Weise eine Dokumentation bei allen untersuchten Patienten geführt wurde. Unverständlich bleibt, wieso die Autoren sich von den verschiedenen Subgruppen der Migräne (Migräne mit und ohne Aura etc.) zurückziehen und aufgrund ihrer Beobachtung zwei verschiedene Formen von kindlicher Migräne beschreiben, die im Alter von vor 6 Jahren erstmals an Migräne erkranken und dann wahrscheinlich eine Prophylaxe brauchen und der anderen Gruppe, deren Verlauf als „günstig“ bezeichnet wird, weil keine Prophylaxe eingenommen wird. Unbeachtet bleibt in dieser Studie eine genauere Analyse des psychosozialen Hintergrundes bzw. fehlt eine standardisierte Erfassung von Lebensqualität. Abgesehen von einer epidemiologischen Datenerhebung zu Migräne im Kindesalter bietet diese Arbeit keine lesenswerte Information. (AG)


**** Stewart WF, Lipton RB, Kolodner KB, Sawyer J, Lee C, Liberman JN. Validity of the Migraine Disability Assessment (MIDAS) score in comparison to a diary-based measure in a population sample of migraine sufferers. Pain 2000;88: 41-52

Zusammenfassung: Der MIDAS Fragebogen ist ein vom Patienten selbst auszufüllender Fragebogen, der drei wesentliche Aspekte des Lebens bzw. die Einschränkung, die durch Migräne in diesen Bereichen entstehen, erfasst Der MIDAS-score wird gebildet aus den Fragen zu versäumter bezahlter Arbeit, Haushaltsarbeit oder verpasster Freizeitaktivitäten bzw. Tagen mit halber Produktivität und erfragt über einen Zeitraum der letzten 3 Monate. Die Validität des Fragebogens wurde mit dem zeitgleich geführten Tagebuch erfasst. Untersucht wurde eine Gruppe von 144 Migränepatienten, die in eine 90 Tage umfassende Tagebuchstudie integriert wurden, wobei am Ende der MIDAS-Fragebogen ausgefüllt wurde. Die Korrelation zwischen dem MIDAS-Score und dem Tagebuch-Score war 0,63 und somit die Validität für dieses Instrument belegt.

Kommentar: Der MIDAS-Fragebogen umfasst 5 Fragen zur funktionellen Beeinträchtigung mit Migränekopfschmerz in den vergangenen 3 Monaten durch Migränekopfschmerz. Der Fragebogen ist einfach auszufüllen und rasch zu interpretieren. Dies ist ein Vorteil gegenüber vielen gängigen Kopfschmerz-fragebögen, die auch im deutschsprachigen Raum zum Einsatz kommen. In vorangegangenen Studien wurde belegt, dass MIDAS mit sowohl dem klinischen Eindruck, wie auch dem Grad der Notwendigkeit einer migränespezifischen Therapie. Die Korrelationen zwischen dem Tagebuch und dem MIDAS-Fragebogen waren relativ hoch für Schmerzintensität und Häufigkeit von Kopfschmerz (Schmerzintensität R = 0,76, Häufigkeit des Kopfschmerzes R = 0,68). Bei der Beurteilung des MIDAS-Scores ist zu bedenken, dass ein Kopfschmerztag alle 3 abgefragten Bereiche beeinflussen kann oder wird, so muss die Anzahl der Kopfschmerztage in der Zeiteinheit berücksichtigt werden. Hervorzuheben ist, dass die Tagebucherhebung wöchentlich erfolgte und somit wenig Recall-Errors erscheinen werden. Der MIDAS-Fragebogen ist nicht in der deutschen Übersetzung erhältlich bzw. nicht im deutschen Sprachraum validiert. Feldstudien in anderen europäischen Ländern wie Schweden haben jedoch die Validität des Fragebogens auch in diesen Ländern belegt. Der Vorteil des MIDAS-Fragebogens ist ganz klar die Kürze der Fragen und die kurze Dauer der Auswertzeit verglichen zu üblichen Kopfschmerztagebüchern. Darüber hinaus wurde durch das MIDAS-Konzept eine neue Art des therapeutischen Zugangs zu dem Patienten zu einem stratifizierten Behandlungskonzept wissenschaftlich belegt, welches sich in der Therapie von Kopfschmerzpatienten mehr und mehr durchzusetzen scheint und somit Patienten mit schweren Migräneattacken schneller einer effektiven Therapie zuführt als die mit den herkömmlichen Stufenprinzip möglich war. (AG)


***Lewis DW, Dorbad D. The utility of neuroimaging in the evaluation of children with migraine or chronic daily headache who have normal neurological examinations. Headache 2000;40:629-632

Zusammenfassung: Um zu entscheiden, ob kranielle Bildgebung bei Kindern mit vermuteten primären Kopfschmerz-Erkrankungen sinnvoll sind, untersuchen die Autoren nach einer ausführlichen Literaturecherche retrospektiv die Krankengeschichte von 302 Patienten im Alter von 6-18 Jahren mit der ICD-9-Klassifikation 784. In die Analyse wurden nur solche Patienten aufgenommen, deren neurologischer Untersuchungsbefund unauffällig war. Die Untersuchung wurde auf die häufigsten primären Kopfschmerz-Erkrankungen eingeschränkt, nämlich Migräne (107 Patienten) und chronischer täglicher Kopfschmerz (30 Patienten). 43% der Patienten erhielten ein CT, 14% ein MR. Es fanden sich insgesamt 9 Abnormalitäten, von denen keine im Zusammenhang mit der primären Kopfschmerz-Erkrankung stand.

Kommentar: Die Chance, bei einer vermuteten primären Kopfschmerz-Erkrankung eine symptomatische Ursache zu finden, ist ohne Zweifel gering. Den Zusammenhang zwischen neurologischem Untersuchungsbefund und Schnittbildbefund herauszustreichen, ist ein wichtiger Verdienst dieser Arbeit. Eine retrospektive Studie hat natürlich erhebliche methodische Schwächen. Dabei scheint die stärkste die reine ICD-9-Klassifikation in den Krankenakten zu sein, die möglicherweise unvollständig ist. Die Arbeit lässt außerdem vermissen, was die tatsächlichen Hauptdiagnosen der Patienten waren. Es fehlt darüber hinaus die Angabe, wie viele Patienten sowohl ein CT als auch ein MRT erhalten haben. Die Daten an sich sind nicht überraschend und in guter Übereinstimmung mit Zahlen aus dem Erwachsenenbereich. Die Schlussfolgerungen gehen jedoch zu weit: in den USA wie in Europa ist die Neuropädiatrie ein unterrepräsentiertes Fach. Die qualifizierte pädiatrisch-neurologische Un-tersuchung ist oft nicht verfügbar. In dieser Situation sind insbesondere die Eltern verunsichert und können durch ein adäquates bildgebendes Verfahren beruhigt werden. Eine untersuchte Zahl von 100 Kindern kann in keiner Weise repräsentativ sein. Dass bei Kindern wie bei Erwachsenen bei etablierter Migräne-Diagnose und normalem neurologischen Untersuchungsbefund eine Bildgebung unentbehrlich ist, ist eine richtige Schlussfolgerung, bedarf aber keiner weiteren extensiven Forschung. (GA)


*** Vahedi K, Denier C, Ducros A, Bousson V, Levy C, Chabriat H, Haguenau M, Tournier-Lasserve E, Bousser MG. CACNA1A gene de novo mutation causing hemiplegic migraine, coma, and cerebellar atrophy. Neurology, 2000;55:1040-1042.

Zusammenfassung: Der Artikel beschreibt den Fall einer 33 Jahre alten Patientin mit schwerer hemiplegischer Migräne. Die Attacken hielten bis zu mehreren Wochen an und waren von Koma, partiellen Anfällen, Fieber und meningealen Reizerscheinungen begleitet. Zusätzlich fanden sich Zeichen für eine mentale Retardierung und eine früh-beginnende cerebelläre Ataxie. Neben einer bleibenden Atrophie des Kleinhirns und der rechten Großhirnhemisphäre, fand sich während der Kopfschmerzattacken kernspintomographisch ein diffuses Ödem der linken Hemisphäre. Bei leerer Familienanamnese ließ sich molekulargenetisch eine bisher nicht bekannte Missense-Mutation im Bereich des CACNA1A-Gens auf Chromosom 19 nachweisen. Kommentar: Eine Reihe von Mutationen im Bereich einer Untereinheit eines Kalziumkanal-Gens (CACNA1A) auf dem Chromosom 19 werden für verschiedene neurologische Erkrankungen verantwortlich gemacht: Episodische Ataxie vom Typ 2 (EA-2), familiäre hemiplegische Migräne (FHM) und spinocerebelläre Ataxie vom Typ 6 (SCA-6). Die autosomal dominant vererbte familäre hemiplegische Migräne ist genetisch heterogen. Alle bisher bekannten Fälle mit begleitenden cerebellären Symptomen zeigen eine Mutation des CACNA1A-Gens. Wie für die EA-2 sind für die FHM verschiedene CACNA1A-Mutationen bekannt. Die vorliegende Studie beschreibt eine neue und die erste bekannte de novo CACNA1A-Mutation als mögliche Ursache einer schweren hemiplegischen Migräne mit begleitender cerebellärer Ataxie und mentaler Retardierung. Die Bedeutung der beschriebenen Mutation als Ursache eines ungewöhnlichen Phänotyps der FHM muss bei Patienten mit ähnlichem klinischen Erscheinungsbild überprüft werden. (TIM)




DMKG